Hermann Stresau (1894-1964) ist Literaturwissenschaftler, Übersetzer, Bibliothekar gewesen. Als er sich weigerte, in die NSDAP einzutreten und wegen angeblich bolschewistischer Neigung denunziert wurde, wurde er im Juni 1933 in Berlin entlassen und hielt sich und seine Frau dann vor allem mit journalistischen und literarischen Arbeiten über Wasser. 2021 erschienen seine Tagebücher aus der Zeit von 1933 bis 1945 in zwei Bänden, in denen Stresau sich als scharfer Beobachter der nazistischen Zeitläufte zeigt, der aus offiziellen Verlautbarungen und aus dem, was so in der Bekanntschaft geredet wird, ein ziemlich deutliches Bild zeichnet. Eine jedenfalls lohnende Lektüre. (Beide Bände natürlich bei uns zu haben!)
Stresau arbeitete auch an der Herausgabe einer Grabbe-Ausgabe, die 1944 in drei Bänden erschien; am Vorwort schrieb er bereits 1941. Im Tagebuch findet sich daher auch ein Eintrag zu Grabbe:
Bei der Arbeit an Grabbe wird mir folgendes klar: er hätte erreicht, was er wollte, wenn er über die technischen Mittel des heutigen Romans hätte verfügen können. Die Hermannsschlacht macht es ganz deutlich: um Bühnenerfordernisse kümmert sich Grabbe überhaupt nicht mehr. Was er bringt, die Schlacht selbst, ist dialogisch-dramatisch kaum mehr tragbar und eher langweilig; dahinter lauert gleichsam das Erzählenwollen, die dramatisch-tragische Epik mit den Blickpunktwechseln. Es ist hochmerkwürdig, wie bei Grabbe das dialektische Sich-Übersteigern, der dramatischen Schauspiel-Form sichtbar wird, das von der Form her gesehen, im Unmöglichen landet, wie diese Form das Wirkliche, wie Grabbe es sah, nicht mehr zu fassen vermag. Solange Grabe sich an diese Form hielt, stieß er regelmäßig auf den nihilistischen Punkt: ein Beweis, was für ein Gefühl er für die Wahrheit einer Sache besaß. Natürlich lassen in der Hermannsschlacht auch die „Kräfte“ nach, aber das ist nicht der springende Punkt. Gerade bei diesem Stück, in dem Grabbe sich besonders ins Zeug legen wollte, bei dem er schon ganz von seinem »Ich« abzusehen bereit war, zersprengt er die dramatische Kategorie völlig; ganze Scenen schreien förmlich nach erzählerischer Zubereitung. Man »sieht« lesend zwischen den Zeilen vieles, und gerade das, was nicht aufführbar ist, und das doch fast die Hauptsache ist. Es ist eigentlich in grotesker Irrsinn, die Hermannsschlacht aufführen zu wollen. Geschehen ist das, und wird auch dieses Jahr bei den Grabbe-Festspielen gewiß geschehen. Man muß das Ding dann aber so zuschneiden, daß bestenfalls eine Halbheit herauskommt. Aber man kann lange laufen, bis man jemanden findet, der die Dinge so sieht oder auch nur sehen möchte, wie sie sind. Diese Fähigkeit ist in einem erschreckenden Maß abhanden gekommen.
Hermann Stresau: Als lebe man nur unter Vorbehalt : Tagebücher aus den Kriegsjahren 1939-1945. / Hg. und kommentiert von Peter Graf und Ulrich Faure. – Stuttgart : Klett-Cotta, 2021. – Tagebucheintrag 16.6.1941, S. 128-129. Signatur LPSS 137
Stresaus Bemerkungen zur Aufführbarkeit der Hermannsschlacht sind von den Herausgebern nicht kommentiert; in unserer Übersicht sieht man jedenfalls, dass es seit 1934 bearbeitete Aufführungen gab, die letzte im Juli 1941. Julia Hiller von Gaertringen hat das 2009 auch mal überblicksartig dargestellt.