Von Erich Kästner gibt es ein Gedicht, das heißt Der Handstand auf der Loreley (nach einer wahren Begebenheit). Es erschien, entnehme ich dem ihm gewidmeten Wikipedia-Artikel, in dem Gedichtband Gesang zwischen den Stühlen, der 1932 erschien, und sei eine »ironische Ballade«. Auf Lyrikline gibt es den Text dazu online und vorgelesen.
Der Zusatz »nach einer wahren Begebenheit«, erklärt der Artikel, sei einerseits bei Kästner nicht ganz selten, andererseits aber in diesem Fall ein »keineswegs ganz ernst gemeinte(r) Authentizitätshinweis«. Dann wird über einen Aufsatz von Michael Ansel auf Horst Johannes Tümmler verwiesen, der herausgefunden habe: es habe der »Turngau Süd-Nassau zu Beginn der 1920er Jahre auf dem Loreley-Felsen eine Halle und diverse Turngeräte errichtet, und tatsächlich soll ein Turner im Übermut einen Handstand an der Felskante versucht haben«.
Tja, das ist vielleicht richtig, aber nicht die Begebenheit, die Kästner meinte. Eine Erkenntnis, die mir die tolle Volltextsuche bei Zeitpunkt.NRW ermöglichte, und, zugegebenermaßen, ein gewisses Rumprobieren mit den Suchbegriffen. Erfolg hatte ich schließlich – zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass das Gedicht 1932 veröffentlicht wurde – mit einer Einschränkung auf den Zeitraum 1.1.1920 bis 31.12.1940 und den Suchbegriffen „handstand turner unglück felsen rhein lorelei“. Das erbrachte gut überblickbare 55 Treffer. Und da fällt beim chronologischen Durchscrollen gleich der 9. Mai 1932 ins Auge, weil da eine Vielzahl verschiedener Zeitungen Treffer anbieten, so die Schwelmer Zeitung, die Hagener Zeitung, Die Wacht, die Gladbecker Zeitung. Ich zitiere im Folgenden aus der (beliebig herausgegriffenen) Werner Zeitung vom 9. Mai 1932:
Todessturz vom Lorelei-Felsen. Bingen, 8. Mai. Am Lorelei-Felsen spielte sich ein entsetzliches Drama ab. Ein verheirateter Mann aus Wiesbaden hatte mit mehreren Bekannten auf Motorrädern einen Ausflug gemacht, wobei auch die Lorelei bestiegen wurde. Trotz des Verbots und der Warnungen seiner Freunde begab er sich über das auf dem Felsen angebrachte Schutzgeländer und führte am Rande des Felsens allerlei halsbrecherische Kunststücke aus. Als er sogar einen Handstand machte, verlor er das Uebergewicht und stürzte den 80 Meter hohen Felsen hinab, wo er am Rheinufer mit zerschmetterten Gliedern liegen blieb. Der Verunglückte hinterläßt Frau und Kind.
Ist also ein durchaus ernst gemeinter Authentizitätshinweis. Die spannende Frage für mich wäre, ob es eine Zeitungsmeldung gibt, die auch die Haltung zum Ausdruck bringt, die bei Kästner kritisiert wird, nämlich die Heldenverehrung des törichten Turners, bei der dann das Mitgefühl für Frau und Kind ins Hintertreffen gerät …