Am Freitag und Samstag begrüßte die Landesbibliothek 15 Wissenschaftler aus Deutschland, England, den Niederlanden, der Schweiz, Österreich, die gekommen waren, um sich über die „Karriere(n)“ des Lyrikers Ferdinand Freiligrath auszutauschen. An beiden Tagen lauschten mehr als 20 Interessierte den öffentlichen Vorträgen. Schon in der Begrüßung wurde deutlich, dass der Titel des Kolloquiums sich nicht nur auf die „Karriere“ des Dichters beziehen sollte – vom Exotismus über das politische Engagement zur patriotischen Begeisterung –, sondern auch auf die Rezeptionskonjunkturen, die man an Freiligraths Aufnahme in Anthologien erkennen kann.
Den Reigen der Vorträge eröffnete dann Rudolf Muhs mit einem Blick auf die Freundschaft zwischen Carl Blind und Ferdinand Freiligrath. Muhs ging dieser Freundschaft anhand der Briefe im Nachlass Blinds nach, welcher von der British Library bewahrt wird; er enthält 22 Briefe Blinds an Freiligrath und 47 Briefe in die anderen Richtung (1 weiterer Brief liegt in der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund). Blind und Freiligrath hätten sich in London oft gesehen, daher sind die Briefe in großen Teilen Aufnahmen von Gesprächen oder schlicht Bezugnahmen, Verabredungen. Blind sei, im Unterschied zu Freiligrath, ein „Berufsrevolutionär“ gewesen, der Freiligrath zum „Unterschriftsteller“ gemacht habe, soll heißen, der Freiligrath für eine Vielzahl eigener Veröffentlichungen und Proklamationen als Unterschreibenden gewinnen konnte. Durch die Freundschaft der Familien, also auch der Frauen und Kinder, sei es eine enge Exilfreundschaft gewesen.
Nils Tatter sprach gründlich über Freiligrath als Übersetzer: gab zunächst einen Überblick über das übersetzerische Gesamtwerk und seine Sprachenvielfalt, um dann näher auf die Hugo-, Longfellow und Scott-Übersetzungen einzugehen. Generell wurde deutlich, wie sehr bei Freiligrath die Übersetzungen mit dem eigenen Werk verwoben sind, auch in der Entwicklung des Vokabulars und des Stils. Kaum ein Dichter habe Übersetzungen solcherart als eigene „Werke“ betrachtet und ihnen einen solchen Stellenwert eingeräumt wie Freiligrath, der fast durchgängig das Übersetzen als lustvolle Tätigkeit beschreibt. (So wie Freiligrath „Gelegenheitsgedichte“ schreibt, die ausgehen von einem bestimmten Anlass, scheint er Gelegenheitsübersetzungen geschrieben zu haben, die schlicht von einer bestimmten Lektüre ausgehen.) Während die Hugo-Beschäftigung noch Broterwerb ist, folgen die Beschäftigung mit Scott und Longfellow dann der Neigung. Die Übersetzungstätigkeit habe sich ohnehin immer mehr Richtung lebende Schriftsteller verschoben. In der Diskussion wurde vermutet, dies könnte damit zu tun haben, dass Freiligrath Pionierarbeit hätte leisten wollen; dem wurde entgegnet, dass sich hier bloß Freiligraths Teilnahme am literarischen Leben zeige. Deutlich wurde der Respekt vor Freiligraths Übersetzungen bei den Zuhörern auch daran, dass einige sich nicht scheuten, besonders gelungene Nachdichtungen über die jeweiligen Originale zu stellen.
Wolfgang Bunzel ging anschließend dem Zusammenhang zwischen Romantik und Vormärz am Beispiel Freiligraths nach. Er zeigte, dass Freiligraths frühe Lyrik noch ganz an Schillers Ideenlyrik orientiert sei und mit der Romantik der 30er Jahre gewisse Züge gemein habe, so den Gestus des Träumens, den Exotismus. Auch die Rhein-Gedichte seien typische Rhein-Romantik. Freiligrath selbst habe seinen Wandel zum politischen Dichter dann auf 1842 datiert; Bunzel wollte diesen Wandel allerdings erst am „Glaubensbekenntnis“ 1844 festmachen. Die Ordnung der Gedichte dort, jeweils mit Ort und Datum versehen, lasse das Glaubensbekenntnis als lyrisches Diarium erscheinen, dass von „Aus Spanien“, dem Text der Weerth-Debatte mit der Absage an das Engagement, auf das politische Engagement zuläuft; Freiligrath habe bewusst die rein romantischen Texte nicht aufgenommen, die er dann erst später in „Zwischen den Garben“ der Öffentlichkeit präsentierte. Die Romantik werde demnach von Freiligrath vorgeführt als „Umweg“ zum politischen Gedicht; das „Glaubensbekenntnis“ sei ein „inszenierter Abschied“. Im Blick von außen müsse man diese Konstruktion nicht teilen und den Phasenverlauf heterogener, nicht teleologisch begreifen: schlicht als Auseinandersetzung mit der literarischen Moderne, der Freiligrath zunächst auszuweichen versucht habe: „mithilfe des Raumes gegen die Zeit“, wie sich Bunzel ausdrückte. In der Diskussion wies Rudolf Drux darauf hin, dass man darauf achten müsse, wie Freiligrath seinen Abschied von der Romantik inszeniere – doch offenbar mit romantischen sprachlichen Mitteln (etwa der Allegorie).
Klaus F. Gille sprach über Heines Atta Troll und die Freiligrath-Anspielungen darin. In der Vorrede in einem „angeklebt“ wirkenden Absatz will Heine seine poetische Freiligrath-Kritik nicht so ernst gemeint wissen, dabei sei der Atta Troll an einigen Stellen als „Kontrafaktur“ des Mohrenfürsten zu erkennen. Heine habe den Mohrenfürst nicht – wie aber z.B. die amerikanische Rezeption – als Anti-Sklaverei-Gedicht erkennen können. Das Publikum wandte hier ein, dass es dies auch nicht könne. Es wurde darauf hingewiesen, dass die Vorrede erst bei der zweiten Veröffentlichung des Atta Troll mit aufgenommen wurde, so dass Freiligrath bei der ersten sich deutlich kritisiert sehen musste. Heine hätten Freiligraths Bilder missfallen. Gestritten wurde in der Diskussion über die 5. Strophe, deren Bildlichkeit (der „fürstliche Mohr“ tritt aus dem „schimmernden weißen Zelt“ wie der „verfinsterte, dunkle Mond“ zwischen den „schimmernden Wolken“ hervor) einigen missfiel.
Jesko Reiling widmete seinen Vortrag dem Verhältnis von Berthold Auerbach und Freiligrath. Reiling machte deutlich, wie das Lob des jeweils andern in der Öffentlichkeit zugleich als Versicherung der eigenen Poetik fungiert habe, mit anderen Worten: dass die beiden an den Werken des andern das gut fanden, was ihnen bei ihren eigenen wichtig war. Auerbachs Festrede auf Freiligrath bei der Feier zur Nationaldotation lässt dabei gut erkennen, dass Auerbach weniger der politische Freiligrath als der „aufgeklärte Verfeinerer der Volksgefühle“ wichtig gewesen sei; Schillers Einfluss sei hier deutlich. Wolfgang Bunzel wies in der Diskussion auf die Selektitivät der Wahrnehmung der beiden.
Robert Langhanke begann seinen Vortrag mit ein paar grundsätzlichen Überlegung zur literaturwissenschaftlichen Modellierung eines dichterischen Spätwerks (zwischen Reifem Alterswerk und eigener Epigonalität); eine Voraussetzung dafür sei, dass ein Dichter überhaupt alt genug werde. Späte Lyrik sei überhaupt selten; bis auf Goethe wisse er keinen namhaften Dichter zu nennen. Freiligrath habe nach der Annahme des Nationalgeschenks in der Gefahr geschwebt, sich zum Nationaldichter stilisieren zu lassen; dem sei er großenteils ausgewichen, indem er bei seinen „Gelegenheitsgedichten“ geblieben sei, deren „Gelegenheiten“ allerdings verstärkt aus dem privaten Bereich stammten. Es habe ihm nie Schwierigkeiten bereitet, „anschauliche Dinge in charmante Reime zu verpacken“. Das Alterswerk enthalte daher wenige Stücke, denen es gelinge, etwas überzeitlich-allgemeines auszusagen – aber danach habe Freiligrath auch nicht gestrebt und damit wohl die richtige Richtung eingeschlagen, statt sich als Stimme der Nation missbrauchen zu lassen.
Am Samstag eröffnete Detlev Hellfaier den Reigen der Vorträge mit einer Darstellung der Freundschaft zwischen Julius Wolff und Freiligrath. Wolff hatte für Freiligrath gesprochen bei der Quedlinburger Freiligrath-Feier zum Spendensammeln 1867, und dann Freiligrath bei dessen Besuch in Bielefeld und Detmold 1869 getroffen und begleitet. Den davon handelnden Bericht für seine Harz-Zeitung samt seinem Gedicht „Unter den Eichen“ hatte er unverzüglich Freiligrath geschickt, der dies beifällig aufnahm. Hellfaier ging dann zwei Ereignissen nach: 1. der brieflichen Kritik Freiligraths an Wolffs Kriegsgedicht „Im Walde von Fontainebleau“, dessen Ende ihm missfiel wegen der unmotivierten Grausamkeit, und 2. dem Versuch Wolffs, Freiligrath für die Veröffentlichung seines Eulenspiegel redivivus in den Dienst zu nehmen. Wolff habe Freiligrath als „Lobbyist“ in eigener Sache genutzt.
Rudolf Drux ging der Schiffmotivik in Freiligraths Werk an der Stelle nach, wo sie sich um das Element des Proletariers erweitert, am deutlichsten in „Von unten auf“. Er kam zusammenfassend zu dem Schluss, die „poetischen Schiffe“ hielten „keinen semantisch klaren Kurs“, die Beteiligung des Proletariers sei aber eine innovative Anverwandlung des traditionellen Schifffahrtsmotivs (Staatschiff, Lebensfahrt etc.). In der Diskussion wurde betont, dass sich auch der traditionelle Typ des Schifffahrtmotivs bei Freiligrath findet und dass hier auch das Element der Technik neu sei. Florian Vaßen hob hervor, dass, auch wenn die Bildführung an mancher Stelle „ästhetisch misslungen“ sei, trotzdem die Rezeption gelungen sei, soll heißen, die Texte beim Publikum wirkten.
Wolfgang Häusler sprach über die Bereiche Exotik und Revolution bei Freiligrath und brachte dafür anschauliches Bildmaterial mit; allerdings schien mir der Vortrag nicht zu einer bestimmten These zu kondensieren.
Bernd Füllner behandelte kenntnisreich Freiligraths Begegnung mit der Zensur und deren Rolle bei Freiligraths Entwicklung zum politischen Dichter: die Zensurnovelle 1843 habe Freiligrath zum Engagierten gemacht, nicht die Begegnung mit Friedrich Wilhelm IV. 1842, die der Dichter selbst dazu stilisierte. Insbesondere die Schwierigkeiten mit dem Gedicht Die Freiheit! das Recht! ; das erst bei der Kölnischen Zeitung nicht erscheinen konnte, bei zwei anderen Zeitungen im gleichen Zeitraum aber schon, und zwar ungekürzt; das schließlich dann in der Kölnischen um zwei Verse gekürzt erschien, haben Freiligrath erregt. „Ein Glaubensbekenntnis“ (1844) wurde dann extra großzügig gesetzt, um über 20 Druckbogen einzunehmen und so der Vorzensur zu entgehen.
Der Berichterstatter hat die Vorträge von Kurt Roessler, Florian Vassen und Matthias Beilein nicht mehr mitbekommen; die Vorträge von Anselm Weyer und Elisabeth Krüger mussten aufgrund beider Krankheit leider ausfallen. Ohnehin war das Programm dicht gedrängt; durch die zum Teil engagierte Diskussion entstand immer wieder die Notwendigkeit, den Diskurs zu unterbrechen. Spannend jedenfalls waren immer wieder die Querverbindungen zwischen den einzelnen Vorträgen und Perspektiven, die die Teilnehmer mitbrachten.