Gedichte zu schreiben, gehörte zu einer beliebten Beschäftigung der Fürstin Pauline zur Lippe (1769-1820). Im Landesarchiv NRW Abtl. OWL ist eine ganzes Bündel Lyrik überliefert (Signatur: L 77 B Nr. 532). Die sorgfältigen Abschriften und die Sortierung durch Nummerierung zeugen davon, wie ernst es Pauline mit ihrer Dichtung war. Ganz zeittypisch finden sich darunter Gelegenheitsgedichte, die zu Geburtstagen, Jubiläumsjahren oder Hochzeiten verfasst wurden. So auch die Abschrift des hier überlieferten Gedichts, das den Briefen Paulines an ihren Vertrauten Friedrich Simon Leopold Petri (1774-1850) beiliegt. Anlässlich der Hochzeit ihres Sohnes Leopold II. mit Prinzessin Emilie von Schwarzburg-Sondershausen dichtete Pauline am 23.04.1820:
Als noch kein Trauerflor mein Diadem umhüllte,
Ich den Beruf der Gattin nur erfüllte –
Und schon dem Lande zweifach frohes Leben
In meinen Söhnen Erben bald gegeben –
Da ward ich neuer Mutterhoffnung mir bewusst
Und wünschte eine Tochter nun an meine Brust!
Da träumte lebhaft mir „Im Jahre Achtzehnhundert
Wird dir und auch den Deinen fröhlich Heil!
Ein geistreich liebes Kind, was Innigkeit bewundert
Doch erst nach zwanzig Jahren, ganz zu Teil!“
Ich wusste wahrlich nicht, was dieses Bild mir wollte
Und ob ich nicht es Täuschung nennen sollte
Da bald nachher mein Herz nur ein Moment beglückte
Und ich mein zartes Kind entseelt am Busen drückte –
Doch heute endlich nun, nach zwanzig ernsten Jahren,
Hab ich des Traumes schöne Wahrheit doch erfahren,
die holde liebe Tochter, meines Sohnes Heil,
Wird, Dank sei Höchster Dir, nun wirklich mir zu Teil.
Detmold
den 23sten April
1820.
Pauline
Zum Gedicht Slg 74 Nr. 1,105: →hier.
Bemerkenswert an diesem Gedicht ist, wie Pauline ihr eigenes Schicksal mit der Ehe des Sohnes verknüpft. Im Jahr 1800 gebar sie eine Tochter, Prinzessin Louise zur Lippe, die nach nur einem Tag verstarb. Auf diese Tochter bezieht sich Pauline, wenn sie von der „neue[n] Mutterhoffnung“ und dem Wunsch nach einer Tochter spricht. Der referierte Traum scheint zunächst eine widersprüchliche Entwicklung vorweg zu nehmen: eine Tochter wird geboren und ist doch abwesend. Rückwirkend deutet Pauline ihn als Vorhersage. Das im Jahr 1800 geborene Kind ist nicht die eigene, verstorbene Tochter, sondern die Schwiegertochter Emilie, die ebenfalls im Jahr 1800 das Licht der Welt erblickte. Und so wird „ein geistreich liebes Kind“ ihr „erst nach zwanzig Jahren, ganz zu Teil!“
Dieses Gedicht ist nicht das einzige, das Pauline angesichts der Hochzeit zwischen Leopold und Pauline verfasste. In der Bibliothek der Fürstin findet sich die Vertonung eines Pauline-Gedichts zum Anlass der Vermählung mit dem Titel „Der güldene Kettentausch eines Brautpaares“ (Beilage 1 zu FP 638a).
Zur Bibliothek der Fürstin Pauline: →hier.