Auf den Spuren der Besitzer

Zeichnungen unter NS-Kunstraubverdacht in der Lippischen Landesbibliothek

von Isabelle Christiani

Druckfassung erschienen in: Heimatland Lippe 118 (2024) 2, S. 12-14.

Der Fund

Im Jahr 2017 sortierten die Mitarbeiter:innen der Lippischen Landesbibliothek ihre Graphische Sammlung. Schnell standen sie vor einem Rätsel: 28 Zeichnungen in etwa Din-A3 großen Passepartouts aufbewahrt. Die Zeichnungen aus dem 16. bis 18. Jahrhundert passten allerdings so gar nicht in den Bestand. Die alles entscheidende Frage war: Woher und wie kamen diese Objekte in die Lippische Landesbibliothek? Erste Hinweise fanden sich auf einer Liste bei den Zeichnungen, die darauf verwies, dass sich die Werke seit 1945 oder auch früher in der Bibliothek befanden. Die Mitarbeiter:innen wurden neugierig und verfolgten die Spur der Blätter. Sie hofften, im eigenen Archiv und im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abtl. Ostwestfalen-Lippe, z.B. Dokumente zum Erwerb vorzufinden. Was sie dort fanden, waren Unterlagen aus den Jahren 1945 bis 1946, die die 28 Handzeichnungen mit ihren Etiketten und Nummern auf dem Passepartout, ihren Maßen und Bildsujets beschrieben. Außerdem hat sich hier eine Anmeldung fremden Eigentums zu den 28 Zeichnungen erhalten, die Alfred Bergmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Grabbe-Forscher und nach dem Krieg kommissarischer Leiter der Landesbibliothek, im Jahr 1946 tätigte. Sie zeigte, dass Bergmann bereits ahnte, dass die Kunstwerke eine Geschichte von Raub und Verfolgung erzählen könnten.

Wo kamen sie her?

Um sich dieser Frage zu nähern, befragte bereits Alfred Bergmann sein Umfeld. Seine Erlebnisse im Zusammenhang mit seiner Arbeit für die Lippische Landesbibliothek in den Jahren 1945 bis 1946 hat Bergmann in seinen Tagesberichten festgehalten, die publiziert vorliegen. Am 12. Januar 1945 sprach er mit dem Antiquar Dr. Hans Krüger aus Bonn, der sich in der Pension „Haus Sauerländer“ in Hiddesen Ende 1944 niedergelassen hatte, über die Herkunft der Handzeichnungen. Krüger vermutete, dass sie von der SS aus französischen Wohnungen geraubt wurden und der Landeskonservator Karl Vollpracht sie aus Mobiliar herausgeholt hatte. Zum Eintrag vom 3. Juli 1945 schrieb Bergmann, dass die Zeichnungen eventuell von den Deutschen aus der Sammlung Rothschild in Paris gestohlen wurden. All das waren zunächst Hypothesen, was auch Bergmann bewusst war. Deshalb wollte er als nächstes Dr. Eduard Wiegand, von 1933 bis 1945 Direktor der Lippischen Landesbibliothek und NSDAP-Mitglied, befragen. Bergmann schrieb dazu, dass es die schlimmste Sache sei, die Eduard Wiegand hinterlassen hat. Als Bergmann klar war, dass es sich bei den Zeichnungen wahrscheinlich um geraubtes Gut handelte, meldete er die Zeichnungen an die Briten. Nach den Vermutungen aus Bergmanns Tageberichten und den gefundenen Dokumenten der Briten im Landesarchiv in Detmold war klar: Es besteht Handlungsbedarf.

Das Projekt

In einem sechsmonatigen Forschungsprojekt wurde der Frage der Herkunft der Objekte nachgegangen. Die Verfasserin führte dabei Objekt- und Archivrecherchen durch, korrespondierte mit anderen Forschenr:innen weltweit und stellte das Projekt in Fachkreisen vor. Zur Förderung und Unterstützung von Provenienzforschungsprojekten gründete sich 2015 das Deutschen Zentrum Kulturgutverluste, welches das hier vorgestellte Projekt finanzierte und seine Durchführung ermöglichte. Die Koordinationsstelle für Provenienzforschung NRW unterstützte und begleitete das Forschungsprojekt mit ihrer Expertise und ihren Kontakten von Beginn an.

Welche Informationen wurden wie gefunden?

Um der Frage der Provenienz näher zu kommen, untersuchte die Verfasserin zusätzlich zu ihren Archivrecherchen die Objekte nach Hinweisen, wie Zahlen, Stempeln oder Etiketten (sog. Provenienzmerkmalen). Für die Identifizierung dieser Merkmale wurden Datenbanken durchsucht, u.a. die Datenbank Marques des Collections Frits Lugt, Kolleg:innen befragt und Archiv- und Literaturrecherchen betrieben. Es konnten so drei Sammlerstempel auf den Zeichnungen identifiziert werden. Es handelte sich um die Stempel des Dresdners Christian Gotthold Crusius und den Brüdern Charles und Amédée-Paul-Émile Gasc aus Paris. Die nächste Frage lautete: Auf welcher Auktion wechselten diese Zeichnungen ihren Besitzer? Durch die Anhaltspunkte ließen sich zwei Zeichnungen auf Auktionen Ende des 18. Jahrhunderts in Dresden und Mitte des 19. Jahrhunderts in Paris verorten und eine Provenienz zu ihrer Geschichte hinzufügen.

Dennoch galt es weiterhin, die große Lücke bis Anfang 1945 zu füllen, als die Zeichnungen das erste Mal bei Bergmann in den Tageberichten auftauchen. Als es langsam aussichtslos erschien, konnten die Zeichnungen in einer Auktion in Berlin im Jahre 1905 nachgewiesen werden. Die Heidelberger Universitätsbibliothek stellt digital historische Auktionskataloge zur Verfügung, die für die Provenienzforschung ein bedeutendes Hilfsmittel sind. Hier war die Suche erfolgreich: In der Auktion in Rudolph Lepke’s Kunst-Auctions-Haus in Berlin am 14. März 1905 gab es einen Treffer. Maße, Bildsujets und Künstlerzuschreibungen im Auktionskatalog stimmen mit denen aus Detmold überein. Das gesamte Konvolut zusammen zu sehen, war ein wichtiger Schritt für die Ermittlung der Herkunft sowohl der einzelnen Zeichnungen als auch des Konvoluts als Ganzes. Bestätigt war diese „Lepke-Provenienz“, als klar wurde, dass die Bleistiftnummern in der rechten unteren Ecke des Passepartouts mit den Losnummern im Katalog korrespondieren.

Um nachfolgend zu erfahren, wer die Zeichnungen erworben haben könnte, ging die Verfasserin auf die Suche nach einem Exemplar des Auktionskatalog mit Notizen derer, die der Auktion beiwohnten. Ein solches Exemplar fand sich in den Niederlanden. Dort stand in roter Handschrift neben den gefragten Zeichnungen der Name „Greve“. Unklar bliebt, um welche Person oder welche Institution es sich dabei handelt. Ein möglicher Kandidat ist ein Buch- und Kunstantiquariat Greve in Berlin. Bisher konnte jedoch der Käufer der Zeichnungen bei Lepke nicht eindeutig identifiziert werden. Wir wissen nun viel mehr über die Herkunft der Zeichnungen. Trotz umfangreicher Recherchen bleibt jedoch unbeantwortet, wo sich die Bilder sich zwischen der Lepke-Auktion 1905 in Berlin und ihrem Auftauchen in der Bibliothek 1945 befanden.

Und nun?

Die anfangs gestellte Vermutung, dass es sich bei den Zeichnungen um „NS-Raubgut“ handelt, konnte während des Projektes also nicht endgültig bestätigt werden. Der Verdacht aber bleibt. Daraus zieht die Landesbibliothek ihre Konsequenzen: Die Ergebnisse des Forschungsprojektes werden ausführlich dokumentiert und präsentiert, um zukünftige Nachforschungen möglich zu machen. Die Blätter wurden sowohl auf der hauseigenen digitalen Bilddatenbank als auch in der Lost-Art Datenbank des Deutschen Zentrum Kulturgutverluste veröffentlicht. Damit sind sie für alle auffindbar. In einschlägigen Publikationen präsentieren die Projektmitarbeiterinnen ihre Ergebnisse. Und auch wenn in Bezug auf die Handzeichnung Fragen offenbleiben, bringen Provenienzforschungsprojekte dieser Art Erkenntnisse über den engeren Untersuchungsgegenstand hinaus: Die Verfasserin konnte bei Kontext- und Personenrecherchen ein Netzwerk von Personen aus dem Kunsthandel und aus der Kultur und Politik erstellen, welches neue Fragen für zukünftige Forschung aufwirft.