Alfred Bergmann erlebt Kriegsende und Neuanfang
Detmold und die Lippische Landesbibliothek um 1945 [Buchvorstellung]
von Joachim Eberhardt
Druckfassung in: Heimatland Lippe 114 (2021) 2, 36-38.
Alfred Bergmann: Detmold und die Lippische Landesbibliothek um 1945. Chronik und Briefe. Hg. und kommentiert von Joachim Eberhardt. 2. Aufl. Detmold: Lippische Landesbibliothek, 21 (Digitale Edition LLB, Bd. 1).
978-39806297-7-5, Preis 23,40 €
Bestellmöglichkeit: →hier.
1961 erschien, privat in 25 Exemplaren vervielfältigt und nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, ein Bericht über „Die Lippische Landesbibliothek im Jahre 1945“. Alfred Bergmann war 1945 nach Kriegsende für ein halbes Jahr kommissarischer Direktor der Lippischen Landesbibliothek gewesen. Er hatte seine „Chronik“ fünfzehn Jahre später auf Bitten Erich Kittels aus seinen tagebuchartigen Aufzeichnungen der Zeit zusammengeschrieben. Auch in seinen persönlichen Briefen aus dieser Zeit ist Bergmann ein wacher Beobachter der Zeitläufte. Die Lippische Landesbibliothek hat diese Chronik und ausgewählte Briefe Bergmanns nun als Buch neu herausgegeben. Es ist frei online zu lesen, im Portal „Digitale Sammlungen“ der lippischen Landesbibliothek. Wer lieber ein gedrucktes Buch in die Hand nimmt, kann das Werk im regulären Buchhandel auch in gedruckter Form erwerben.
Um einen ersten Eindruck davon zu bieten, folgen einige Auszüge aus Bergmanns Briefen, die in dem Buch erstmals veröffentlicht sind.
Am 2.11.1944 erklärt Bergmann seinem Freund Alfred Kloß sein längeres Schweigen – er war zur Schanzarbeit am Westwall abkommandiert. Im Bewusstsein möglicher Zensur geschrieben, gerät Bergmann der Brief zur Satire:
Von der Episode der Schanzarbeit an der holländischen Grenze wäre ein Buch zu schreiben. Ich muß mich mit Andeutungen begnügen. Bei der Auswahl der Hundertschaften hatte man offenbar solche Männer bevorzugt, von deren hundertprozentiger Bindung an die Partei man nicht überzeugt war. Sie sollten offenbar durch eine glanzvolle Demonstration der Leistungen der Partei seelisch erschüttert und aus Saulussen zu Paulussen umgewandelt werden. Einige Ausnahmen bestätigen die Regel. Diese Herren waren vielleicht auch nur aus Versehen mit auf die Liste gekommen. Sie bedurften natürlich keiner Bekehrung mehr und hauten deswegen schon nach wenigen Tagen wieder ab, so daß wir nach einiger Zeit „ganz unter uns“ waren! Die erwähnte Absicht wurde natürlich aufs glänzendste erfüllt: die Organisation klappte hervorragend: sorgfältig vorbereitete Quartiere nahmen uns in Venlo auf, die Unterbringung in dem „Spargeldorfe“ Walbeck, unserm zweiten Standquartiere, war nicht minder fürstlich, die Verpflegung hervorragend, die ärztliche Betreuung zeichnete sich durch liebevolle Sorgfalt aus, Medikamente standen in friedensmäßiger Fülle zur Verfügung, kamen Kranke in die Heimat zurück, so wurden sie von einem Stabe von Krankenschwestern und Herren in Uniform betreut, die lieber auf ihr Auto verzichteten, als daß sie es mit angesehen hätten, daß diese Männer, die sich im Dienste des Vaterlandes krank gearbeitetet hatten, auch nur einen Schritt zu Fuße gehen mußten. Nimmt man hinzu, daß wir Rauchwaren in Menge und pro Tag zwei Mark Löhnung bekamen, so ist es keine Wunder, daß es Bekehrungen über Bekehrungen gab. Wer bisher der Bewegung skeptisch gegenübergestanden hatte, schlug reuevoll an seine Brust und ging in sich, die fehlenden Prozente schleunigst zulegend, wer sie gemieden hatte, fasste für die Heimkehr die entscheidendsten Vorsätze, Ketzereien und politische Witze, die sich wohl ab und zu in der ersten Zeit schüchtern an die Oberfläche gewagt hatten, verstummten mehr und mehr, und zum Schlusse konnte man nur von einem rauschenden Triumphe der positiven Haltung sprechen, die auf der ganzen Linie gesiegt hatte. Dies miterlebt zu haben ist mir der schönste Gewinn. Wo hätte ich sonst die Gelegenheit finden sollen, wochenlang in so intimem Kontakte mit so vielen Volksgenossen der verschiedensten Schichten zu leben!
Im Februar 1945 beklagt sich Bergmann bei seinem Freund über die Nahrungsmittelknappheit (22.2.1945):
Zu all den anderen Sorgen kommt jetzt noch die über die Ernährung. Wir sind ganz verzweifelt darüber, daß wir einen Zentner Kartoffeln zurückgeben müssen. Dabei ist es bis jetzt sehr über unseren Bestand hergegangen, da meine Frau ganz verhungert aus Glotterbad heimkehrte und ich nach den Schippe-Wassersuppen überhaupt nicht sattzukriegen war. Wir fragen uns vergebens, wovon wir leben sollen, da wir auch fast kein Gemüse haben. Meine Frau rennt und rennt und steht und steht und hat innerhalb der letzten vier Wochen sage und schreibe zwei Steckrüben bekommen. Der Schwund und Verderb in all den Wintermonaten ist dabei nicht einkalkuliert worden. Dabei war ein Teil der Kartoffeln erfroren, und war gar nicht zu genießen! Wenn erst einmal die große Hungerei angeht, was dann? Die eingeborenen Detmolder haben’s natürlich viel besser. Es wird hier kaum eine Familie ohne ländliche Beziehungen sein. Wer, wie die Frau meines Chefs, was sie selbst erzählt, allein einen Zentner Erbsen eingeweckt hat, der wird auch mit wenig Kartoffeln auskommen. Mit Brot sind wir so knapp, daß ich mein zweites Frühstück reduzieren mußte und mit einem wahren Heißhunger mittags nach Hause komme. Hat man das aus Steckrüben und Kartoffeln bestehende Mahl hinter sich, so ist man nach der Mittagsruhe schon wieder hungrig. Kürzlich kam meine Frau abends in die Bibliothek. Sie hatte vor Hunger solche Kopfschmerzen bekommen, daß sie es nicht mehr ausgehalten hatte, in die Stadt gelaufen war, dort ein paar Brötchen u. etwas Wurst gekauft hatte, und das brachte sie mir nun, und wir aßen jeder ein Wurstbrötchen. Dabei stehen wir erst im Anfange. Es ist ein Jammer, daß unser Grundstück so weit weg liegt. Sonst würden wir dort etwas Gemüse bauen.
Nach Kriegsende ist der Postverkehr zunächst auf das Verschicken von Postkarten beschränkt. Im Oktober 1945 hat Bergmann dann Gelegenheit, seinem Freund Kloß ausführlicher zu schreiben, und kommt auch auf die Bibliothek zu sprechen:
Unsere Bibliothek ist ohne Gebäudeschaden und mit erträglichem Sachschaden durch den Krieg hindurchgekommen und deshalb berufen, in den nächsten Jahren hier eine bedeutsame Rolle zu spielen a la die weitaus größte Bibliothek in weitem Umkreis. Bielefeld hat 60 v.H. des Bestandes eingebüßt, Münster auch sehr viel, desgl. sind die Hannöverschen Verluste nicht gering. Detmold ist mehrere Tage lang umkämpft worden, und hat davon allerhand Schäden. Wir haben mehrere Tage und Nächte lang unter Artilleriebeschuß gelegen und recht ungemütliche Stunden dabei verlebt. Es ist aber alles gut gegangen. Merkwürdigerweise schlafen wir beiden jetzt schlechter als damals, als die Alarme sich häuften. Wir schieben es zum guten Teile darauf, daß wir an die Höhenluft gewöhnt waren und uns erst akklimatisieren müssen. Gleichwohl empfindet meine Frau die größere Nähe zur Stadt und den Umstand, daß sie bei der Heimkehr den steilen Berg nicht mehr zu erklettern braucht, als große Wohltaten. Mit der Heizung wird es in diesem Winter übel aussehen. Kohlen oder Koks gibt es nicht. Holz haben wir etwas, aber was haben alle die Männer sammeln können, die mit den Ereignissen des April stellenlos geworden sind!
Im Januar 1946 wird die Landesbibliothek von der britischen Besatzungsmacht wieder für den Publikumsverkehr geöffnet. Von den ersten kulturellen Aktivitäten berichtet Bergmann dem Freund im Juni 1946:
Unsere Bibliothek steht im Zeichen großer Aktivität. Dr. Kittel [der neue Bibliotheksleiter], über den ich Dir schrieb, hat eine Reihe von Vorträgen eingerichtet: Wiedersehen mit alten Bekannten. Es ist eine Einführung in bisher verpöntes Schrifttum. Ich habe am Freitag, den 14. d.M., auf meinen Vorschlag über Stefan Zweig gesprochen. Konnte mich nicht ausnehmen, wiewohl ich mir der Unzulänglichkeit meines Sprechens bewußt war und in dieser Hinsicht einen Mißerfolg voraussah. Ich spreche zu rasch und zu leise, und außerdem macht mein mitteldeutscher Akzent dem hiesigen Menschen Schwierigkeiten. Dr. K. hat über René Schickele gesprochen. Es folgt noch ein Vortrag über Romain Rolland. Als außerordentliche Veranstaltung haben wir gestern eine kleine, aber würdige Feier zum Gedächtnis Gerhart Hauptmanns veranstaltet, und zwar in der Aula des Lehrer-Seminars. […] Meine Frau hatte in fliegender Eile nach der Behl-Voigtschen Chronik eine Büste Hauptmanns geschaffen, die ihr nach allgemeinem Urteil recht gut gelungen ist und sich vor den Lorbeerbäumen sehr fein ausnahm und vor allem aus der Ferne vorzüglich wirkte. Merkwürdig goethe-ähnlich, wiewohl meine Frau doch nur Hauptmannsche Bildnisse verwendet hat. Ich hatte eine Ausstellung zu Leben und Werk, fünf Vitrinen und ein Schrank mit den Gesamt-Ausgaben, aus dem Besitze der Landesbibliothek und meinem eigenen. Über den Vitrinen der Kollwitz „Weberaufstand“.