Ein beinah unschönes Gesicht

Grabbe-Porträts

Aus der Bildsammlung


Ein »beinah unschönes Gesicht«

Serie: Aus der Bildersammlung der Lippischen Landesbibliothek (4)

von Joachim Eberhardt

Druckfassung in: Heimatland Lippe 113 (2020) 10, 254-256.

Wie hat Christian Dietrich Grabbe wirklich ausgesehen? Kommt man in Detmold Unter der Wehme 7 am „Grabbe-Café“ vorbei, dann erinnert ein klassisch-schöner Porträtstich (Bild 1) an den berühmtesten Sohn der Stadt, der in diesem Haus seit seiner Heirat wohnte und 1836 starb. Es zeigt einen wohlproportionierten, runden Kopf auf einem kräftigen Oberköper, mit hoher Stirn, zurückweichendem Haaransatz, kleinen Ohren und Backenbart. Einige dieser Elemente beruhen jedenfalls auf historischen Tatsachen. Der Stich ist ein Werk des Wiener Kupferstechers Franz Xaver Stöber (1795-1858), das zur Einleitung von Karl Immermanns Grabbe-Memorabilien beauftragt wurde, die 1838 erschienen. Stöber hatte zwei Zeichnungen von Theodor Hildebrandt (1804-1874) als Vorlage, der Grabbe in Düsseldorf 1835 selbst erlebt hatte. Hildebrandt war seit 1832 Lehrer an der Düsseldorfer Malerschule und galt als ausgezeichneter Porträtmaler. Von den beiden Zeichnungen liegt eine (Bild 2) in der Nationalgalerie in Berlin, die andere in der Lippischen Landesbibliothek (Bild 3). Vergleicht man sie mit Stöbers Stich, dann erscheint dieser jedoch als Idealisierung und zwar sowohl für die gestrafften und geglätteten Gesichtszüge, als auch für die Haltung und die Proportionen. Das lassen auch die literarischen Beschreibungen ahnen von Personen, die Grabbe erlebt haben: Nach seinem Freund und Biographen Karl Ziegler hatte Grabbe eine hohe Stirn mit zurückgewichenem blonden Haar, einen rötlichen Backenbart und einen zurückgebogenen Mund und Kinn. Hermann Eduard Reinhard erinnert sich an eine „mittelgroße hagere Figur, ein beinah unschönes Gesicht, welches nur durch eine hohe, klare Stirn bedeutend wurde“, Rudolf Köpke beschreibt den Studenten Grabbe als „schwächliche Figur, ein bleiches Gesicht, von Sorge und Leidenschaft zerstört“, ähnlich Gustav Kühne über den späten Grabbe: „ein groteskes Gesicht mit eingefallenen Wangen, verbissenen Lippen, zerstörten Zügen, über denen eine stolze, fast majestätisch hohe Stirn wie mit dem Zorn des Donnerers thront“. Karl Immermann erlebt bei seinem Besuch 1831 „ein schmales, spärliches Männchen, mit einer hübschen ovalen Gesichtsform, einem wohlgebildeten Munde, deßen bleiches Antlitz aber durch das völlig Mäusefahle Haupthaar noch tonloser und Mitleidenswürdiger erschien“. Als er Grabbe im Dezember 1834 in Düsseldorf wiedersieht, hält er fest: „eine außerordentlich große, prächtige Stirne, herrliche blaue Augen, eine kleine, wohlgeformte Nase, dann aber der untere Theil des Gesichts auf die sonderbarste Weise zurückweichend, kein Hals, sondern Kinn und Brustknochen durch eine schräge Fleisch-Fettlage verbunden. Sehr kleine Hände, der Körper aber in Haltung und Bewegung so ungefüg“.

Unsere heutige Vorstellung davon, wie nah Bilder an der Wirklichkeit sind, ist durch die Fotografie und Video geprägt, die wir als Abbildung in ihrem Verhältnis zum Urbild zu interpretieren gelernt haben. Das Kunstfertige eines guten Schnappschusses besteht darin, den richtigen, charakteristischen Moment zu treffen, aber auch wenn das misslingt, „stimmt“ die Fotografie. Doch solch gleichsam automatische Treue gibt es bei historischen Porträts nicht, wie folgenden Bilder zeigen.

Auch der Maler Wilhelm Pero hat Grabbe in Düsseldorf erlebt und seine Kreidezeichung – das Original gehört dem Wallraf-Richartz-Museum in Köln und wurde für eine Jahresgabe der Grabbe-Gesellschaft reproduziert (Bild 4) – nach dem Augenschein geschaffen. Doch schon in seiner eigenen Lithographie (Bild 5) – die hier gespiegelt gezeigt wird – rundet er Stirn und Wangen und verfehlt Mund- und Kinnpartie. Vertrieben wurden dieses Bild anscheinend nicht, jedenfalls ist auf dem Exemplar der Landesbibliothek handschriftlich vermerkt, es handele sich um den einzigen Abzug. Für die literarisch interessierte Öffentlichkeit gab es daher Bedarf nach einem Grabbe-Porträt, und so schnitt W. Severin im Herbst 1836 eine zweite Lithographie (Bild 6) nach Peros Porträt. Sie wurde noch im gleichen Jahr vom Schreiner-Verlag in Düsseldorf vertrieben, in dem auch Grabbes letzte gedruckte Werke zu haben waren. Daher gab Ernst Willkomm diese dem Lithographen Roland Weibezahl zum Vorbild, der damit seine 1837 erscheinenden biographischen Bemerkungen über Grabbe illustrieren sollte (Bild 7). Damit entsteht so etwas wie eine „stille Post“ des Porträts, die sich immer weiter vom Urbild entfernt. Grabbes Witwe Louise fand Weibezahls Version „ganz misslungen“, wo doch Peros Vorbildzeichnung „gut“ und „treu“ gewesen sei – dabei setzte sie letztere mit Severins Version gleich, denn die Originalzeichnung kannte sie gar nicht. Was hätte sie wohl zu den Versionen gesagt, welche die Werkausgaben von Gottschall (Bild 8) und Blumenthal (Bild 9) zierten?

Noch weniger gefiel Louise das Porträt, das im Rheinischen Odeon 1838 zu Ehren Grabbes gezeigt wurde. Zwar stammte es von dem Düsseldorfer Maler Wilhelm Heine, der mit Grabbe befreundet gewesen war, und Grabbe hatte ihm sogar für das Porträt gesessen. Bekannt ist jedoch nur die lithographische Reproduktion für den Druck, die ebenfalls Severin geschnitten hat (Bild 10). Ferdinand Freiligrath fand, dass die „Auffassung keineswegs eines Grabbe würdig“ sei. Anstoß nahmen Freiligrath und Louise möglicherweise an der unordentlichen Kleidung und dem leeren Blick, wobei wir von Ziegler wissen, dass Grabbe sein Hemd gern offen trug.

Alle weiteren Grabbe-Porträts sind ohnehin spätere Phantasiebilder, wie z.B. Ernst von Bandels Grabbe-Büste (Bild 11), 1841 geschaffen nach dem Peroschen Vorbild, oder das Porträt des Malers Bruno Wittenstein (Bild 12).

Wie hat Grabbe also wirklich ausgesehen? Peros und Hildebrandts Zeichnungen dürften am nächsten dran sein – und trotzdem nicht nah. Sie entstanden, als Grabbe in Düsseldorf bereits krank war und die Krankheit „eine gänzliche Veränderung seines Äußeren“ hervorgebracht hatte (so Freund Duller). Denn „sein Gesicht war sonst mager – die Backen flach, die Nase stumpf und scharfkantig“ (Louise Grabbe).

Literatur: Alfred Bergmann: Grabbe im zeitgenössischen Bildnis. Zeitschrift für Bücherfreunde 14 (1922) 6, 127-135.