Nicolaus Bouman, Apotheose des Grafen Simon VI. zur Lippe

Kurzreferat anlässlich des Gottesdienstes am Sonntag vor Himmelfahrt (25. Mai 2014) im Rahmen des EKD-Themenjahres „Reformation und Politik“ in der Christuskirche zu Detmold

von Detlev Hellfaier

Graf Simon VI. zur Lippe war am 7. Dezember 1613 neunundfünzigjährig in seiner Residenz Brake gestorben. Am 20. Januar 1614 wurde er mit der seinem Rang angemessenen Choreographie in der gräflichen Gruft der ehem. Klosterkirche zum Heiligen Leichnam in Blomberg beigesetzt. Zeitnah verfertigte der Magdeburger Kupferstecher Nicolaus Bouman, ursprünglich ein Niederländer, über den nur wenig bekannt ist, den großartigen Kupferstich der Apotheose des Grafen; der Stich zählt zu den ausdrucksstärksten Exponaten aus den Graphischen Sammlungen von Landesbibliothek und Landesarchiv.

Nicolaus Bouman, Apotheose des Grafen Simon VI. zur Lippe Kupferstich, 1614. – 22,5×16,5 cm. Detmold, Lippische Landesbibliothek, 10 B 3,1 Detmold, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abt. Ostwestfalen-Lippe, D 71 Nr. 86.

Mit Simon starb ein Landesherr, unter dessen Regentschaft von 1579 bis 1613 die überschaubare Grafschaft Lippe begann, sich aus dem Feudalzeitalter zu lösen. Der Weg in Richtung eines neuzeitlichen, ökonomisch-verwaltungstechnisch durchgestalteten und damit modernen Staatswesens präabsolutistischer Prägung wurde eingeschlagen. Mehr noch: durch das außenpolitische Wirken und das offenbar vorhandene diplomatische Geschick des Grafen erfuhr Lippe eine Aufwertung, die die Duodez-Provinzialität verließ, um – wenn man so will – sogar europäische Dimensionen zu erreichen. Das sollte sich allenfalls rund 200 Jahre später aufgrund günstiger Machtkonstellationen noch einmal wiederholen; und dann nie wieder.

Was war das für ein Mann, dessen Ableben und dessen Nachleben mit einem so effektvollen Kupferstich, wie wir ihn hier sehen, gefeiert wurde? Simon VI. hatte die nach den Maßstäben der Zeit üblichen Bildungsstationen durchlaufen: häusliche Erziehung und Unterricht am Detmolder Hof, vorrangig unter der Führung des lippischen Generalsuperintendenten Johann von Exter, des Verfassers der ersten lippischen Kirchenordnung von 1571, Studienaufenthalt am Gymnasium illustre in Straßburg 1567/68 unter Anleitung des akademisch gebildeten Hofmeisters Christoph von Donop und des neuen Präzeptors und Melanchthon-Schülers Nikolaus Thodenus. Dieser betreute ihn auch während des anschließenden vierjährigen Aufenthaltes am braunschweigisch-lüneburgischen Hof zu Wolfenbüttel. Sein prägender Einfluss auf die geistige Ausrichtung des Junggrafen ist nicht zu unterschätzen. Dem Aufenthalt in Wolfenbüttel am Hofe Herzog Julius’ folgten ähnliche, wenn auch kürzere Besuche der Fürstenhöfe in Kassel, Darmstadt, Jülich, Stuttgart und Celle und später des kaiserlichen Hofes zu Prag. Seine Teilnahme an den Reichstagen zu Augsburg (1582) und zu Regensburg (1594), sein Mitwirken an einer Gesandtschaft in die Niederlande (1591), seine Aktivitäten als Kreishauptmann des Niederheinisch-Westfälischen Reichskreises (seit 1595) und zahlreiche Reisen, Gäste und Beraterbesuche im Schloss Brake erweiterten sein Wissen, vermittelten die Bekanntschaft von Gelehrten und förderten nicht nur sein politisches Verständnis, sondern vor allem seine Neigung zu Wissenschaft, Kunst, Literatur und Musik. In dieser Hinsicht war Simon ganz typischer Renaissancefürst: er eiferte höfischen Vorbildern nach und war bemüht, deren Prachtentfaltung, Leistungen und Vorstellungen an seinem Hof in Brake umzusetzen. Landgraf Wilhelm IV. von Hessen spielte für ihn eine entscheidende Rolle, und vor allem der Kaiser Rudolf II. selbst blieb auf ihn nicht ohne Einfluss; ihn machte er sich über die Konfessionsgrenzen hinweg durch klugen Rat, aber auch als Vermittler und Kunstagent gewogen. Simons Interessen streuten weit: Astronomie und Astrologie, Alchimie und Vermessung, Festungsbau und Militärwesen, und immer wieder Politik. Im Zeitalter der Glaubenskämpfe war diese gleichbedeutend mit Kirchen- oder Konfessionspolitik. Seine beachtliche Bibliothek, aufbewahrt in der Nähe seines Studierzimmers in drei gewölbten Räumen des Braker Schlossturms, legt in ihrer Schwerpunksetzung beredtes Zeugnis ab vom reichen Interessenspektrum des Grafen. Vor diesem Hintergrund wird manche Anspielung in der Apotheose des Grafen verständlich.

Unter „Apotheose“, griechisch „apotheosis“, also „Vergötterung“ oder „Vergöttlichung“, wird gemeinhin die Entrückung einer irdischen Person nach ihrem Ableben zu den Göttern verstanden. Die Römer bezeichneten diesen Vorgang als „consecratio“. Seit Julius Caesar war die „consecratio“ allein verstorbenen römischen Imperatoren vorbehalten: römische Kaiser, die sich ohnehin bereits zu Lebzeiten göttergleich verehren ließen, fuhren in den Himmel und mutierten selbst zu Göttern. „Die Apotheose ist auch in der Kunst der Neuzeit in der Regel an die Voraussetzung gebunden, dass es sich um einen Verstorbenen handelt und dass antike Motive der römischen ‚consecratio’ Verwendung finden“, heißt es treffend an einschlägiger Stelle. Damit wird deutlich, dass die Apotheose Simons VI. einem klar vorgegebenen klassischen Muster folgt.

Bekleidet mit einem Prunkharnisch, in der Rechten den Marschallstab wird Graf Simon auf einem zweirädrigen, mit Baldachin versehenen Thronwagen von zwei Schwalben über eine sich auftürmende Wolkenbahn himmelwärts gezogen. Bei dem Gefährt handelt es sich um eine „tensa“, einen Prozessions- oder Götterwagen, wie ihn die Römer in Prozessionen für Götterbilder verwendeten. Mit ihm auf dem Wagen sitzt eine Engelsgestalt als Todesgenius, die unterstreicht, dass Simon das irdische Leben bereits verlassen hat. Im Himmel erwarten den Grafen „in einem manieristisch gedrehten Wolkenturm“ Jupiter (Adler), der Allgewaltige, der Förderer der Künste, und Herkules (Keule, Löwenfell) sowie die zwölf olympischen Götter. Saturnus (Sense), Merkur (Flügelkappe), Diana (Mondsichel), Minerva (Schild, Rüstung), Venus (Spiegel, Geschmeide) und Amor (Pfeil, Bogen), Vulcanus (Schmiedehammer) und Juno (Krone) sind aufgrund ihrer Attribute eindeutig auszumachen. Neben dem Halbgott Herkules, der sich in seiner Jugend für den Pfad der Tugend entschieden und ein Platz im Götterhimmel verdient hatte, bleibt Raum für den nun auffahrenden Landesherrn. Er lässt seine Grafschaft, seine Residenz und seine Dynastie in guten Händen zurück: Aurora, die rosenaffine Göttin der Morgenröte, öffnet eine Wolke und besprengt sechs im Vordergrund aufgeblühte Rosen mit Wasser, der Sonnengott Sol sendet seine Licht und Wärme spendenden Strahlen zur Erde. Fruchtbarkeit und Gedeihen auf Erden, sprich: in der Grafschaft Lippe, sind damit gesichert. Die Rosen und der sechszackige Stern kehren auf der Radscheibe des Prunkwagens wieder; gemeinsam mit den Schwalben sind damit die heraldischen Elemente der Grafen zur Lippe signifikant vertreten (lippische Rose, Sternberger Stern, Schwalenberger Schwalbe).

Den Bildhintergrund links unten füllt das Schloss Brake, die Residenz des Grafen Simon; er hatte die mittelalterliche Burg seit 1584 im modernen Stil der Weserrenaissance ausbauen lassen. Drei Jahre später erhob er Brake zu seiner Hauptresidenz. Es handelt sich hier um die älteste bisher bekannte bildliche Darstellung des Schlosses überhaupt. Zu erkennen sind neben dem beherrschenden Turm mit doppelter Haube und Umgang der mit fünf Zwerchhäusern und einer Bastion versehene Nordflügel, Torhaus mit Westflügel, Südflügel, Schlossmühle, Marstall, Wirtschaftshof, Begaumflut und zahlreiche weitere Details. Der Kupferstich bedeutet die aussagekräftigste Bildquelle für die frühe Baugeschichte des Schlosses schlechthin. In sechs lateinischen Distichen, einem Hexameter und einem Pentameter wird Simon als der Liebhaber der Musen gefeiert, ihm winkt im Himmel ewiger Ruhm; Sterne, Vögel und Rosen spielen im Text auf die Wappenbilder an. Kleine Zahlen im Text verweisen auf entsprechend gekennzeichnete Elemente im Bild (Jupiter, Musen, Stern, Himmel, Vögel, Regen/Tau, Blüten und Sonne). Dass von „avis“ (= mit den Vorfahren) statt korrekterweise von „avibus“ (= mit den Vögeln) die Rede ist, darf man gewiss als gelehrte Wortspielerei verstehen.

Johannes Matham, Apotheose Rudolfs II. WRM, Inv.-Nr. S 7/93.

Da sich Simon VI. vor allem an der Hofkunst des Kaisers orientierte, ist davon auszugehen, dass sich Nicolaus Bouman an die „Apotheose Rudolfs II.“, der 1612 gestorben war, gehalten hat. Diese vom Kupferstecher und Zeichner Jakob Matham († 1631) gestochene Apotheose des Kaisers weist eine ähnliche ikonographische Rhetorik auf, wie sie bei Simon wiederkehrt: Rudolf fährt in kaiserlichem Ornat auf einer Wolkenbahn in den Olymp, ebenfalls in einer „tensa“, einem römischen Prozessionswagen. Dieser wird von zwei Adlern und einem Löwen gezogen, den Wappentieren des Kaisers und böhmischen Königs. Dort im Himmel erwarten ihn Herkules, der sich besonders bei den Habsburgern seit Maximilian I. als Tugendexempel und mythologischer Ahnherr großer Beliebtheit erfreute, ferner Jupiter und die Olympier. Dass Simon die habsburgische Identifikationsfigur Herkules, die für die lippische Dynastie keine Bedeutung hat, mit in sein Bildprogramm aufnehmen ließ, belegt die starke Abhängigkeit vom kaiserlichen Vorbild. Links unten erkennt man Prag mit der kaiserlichen Residenz auf dem Hradschin. Die Abbildung der eigenen Residenz ist ebenfalls ein Motiv, das bei Simon aufgegriffen wird. Man darf annehmen, dass der Graf zur Lippe die Druckgraphik der Apotheose Rudolfs gekannt hat und man muss wohl davon ausgehen, dass er selbst entsprechende programmatische Vorgaben für das eigene bildliche Nachleben getroffen hat. Nicolaus Bouman blieb es dann überlassen, Simons Vorstellungen künstlerisch umzusetzen.

Die „Apotheose Simons VI.“ bedeutet ein eindruckvolles Zeugnis adligen Selbstverständnisses aus der Zeit um 1600. Dass gerade er als reformierter Landesherr sich in der Rolle des himmelfahrenden Musenfreundes, und damit künftig den Göttern gleich, dargestellt wissen wollte, ist zweifellos bemerkenswert. Das gibt Gelegenheit zu eingehender Interpretation. Trösten wird uns zunächst mit der Gewissheit, dass das dahinter stehende Programm wohl durchdacht gewesen ist. Lautete doch Simons Devise, die ihm der hessische Landgraf 1574 mit auf den Lebensweg gegeben hatte: „Quidquid agis, prudenter agas et respice finem“ – also: „Was immer du tust, tue mit Bedacht und bedenke das Ende.“ (Sirach, 7,36). Das wird er wohl getan haben.