Lateinisches Lobgedicht auf Bernhard II. zur Lippe (sog. Lippiflorium)

von Detlev Hellfaier

In: Credo – Christianisierung Europas im Mittelalter, hrsg. von Christoph Stiegemann (u.a.). Bd. 2: Katalog. – Petersberg, 2013, S. 649-650.

Lippiflorium, Mscr 73
Justinus : Lippiflorium (lat./mndt.)
Westfalen, Sammelhandschrift, Papier, 1. Viertel 16. Jh. – 233 Bll., H. 19, 5 cm, B. 16,6 cm
Detmold, Lippische Landesbibliothek, Mscr. 73

Dem bisherigen Sprachgebrauch folgend liegt mit dem Lippiflorium ein lateinisches Lobgedicht in 513 Distichen – 1026 Versen – auf den Edelherrn Bernhard II. zur Lippe († 1224), späteren Abt von Dünamünde und Bischof von Selonien vor; es gilt als älteste erzählende lippische Geschichtsquelle. Gewidmet ist die Schrift Bernhards Enkel Simon zur Lippe († 1277), Bischof von Paderborn. Der Verfasser nennt sich im Epilog selbst, wo es in den Versen 1020/1021 heißt:

Posthac qui dicet: „Iustini pace quiescat
Spiritus; hic huius carminis autor erat.“
(Wer später einmal sagt: „Justinus’ Seele ruhe in Frieden;
er war der Dichter dieses Liedes.“)

Im Namen des kleinen Werkes spielt der Verfasser auf das lippische Wappenbild, die Rose, an (v. 1017/1018):

Flore metri florem quia Lippensem gerit in se,
Lippifloriger hic dicitur inde liber.
(In der Blume des Liedes erblüht hier die lippische Rose:
Darum hab’ ich das Büchlein ‚Lippifloriger’ genannt.)

Der gemeinhin als Autor geltende Justinus wird bisher mit dem urkundlich genannten magister Iustinus rector scolarum in Lippia des Stifts St. Marien in Lippstadt und dem 1263 erwähnten familiaris des Stifts Cappel identifiziert. Die Abfassung wurde bisher meist in die Zeit zwischen 1259 und 1264 gesetzt, doch haben neuere Forschungen auch Datierungsansätze um 1247/48-1254 – Erhebung Simons zum Paderborner Bischof, besondere Bedrohung der städtischen Freiheit Lippstadts durch den Erzbischof von Köln – mit guten Argumenten vertreten; in unmittelbarem Kontext damit steht zwangsläufig die noch nicht hinreichend geklärte Auftraggeberfrage, hier konkurrieren der Stiftsklerus von St. Marien und städtische Eliten Lippstadts. Mit anregenden Überlegungen wurde kürzlich die These vertreten, die Abfassung des Lippifloriums der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und damit der Zeit des Frühhumanismus zuzuweisen. Die späte Überlieferung, deren Zweisprachigkeit, die nur regionale Verbreitung, die Namensgleichheit der gräflichen Autoritäten (Bernhard/Simon) sowie besitzrechtliche Fragen des Stifts St. Marien in Lippstadt und anderes mehr scheinen diese These zu stützen. Weitergehende Untersuchungen stehen derzeit noch aus.

Unabhängig von dieser Neubewertung des Lippifloriums gehört das epische Gedicht in die Gattung der Fürstenlobe, also Schriften, in denen das Musterbild eines Fürsten vorgestellt wird, und zwar als Lebensbeschreibung berühmter Potentaten oder als dichterisches Idealbild historischer Persönlichkeiten; sie enthalten ethische Vorstellungen über Rechte und Pflichten, über Befugnisse oder Begrenzungen fürstlicher Macht; hagiographische Elemente sind diesem Typus nicht fremd. Das Lippiflorium wurde mit historischen Begebenheiten aus dem Leben Bernhards II. angereichert, die dem Verfasser aus mündlicher Tradition bekannt gewesen sein dürften, dazu gehören Schwertleite mit Turnier, Gründung Lippstadts, Abkehr vom weltlichen Leben und Heidenmission in Livland. Während der historische Quellenwert als eher bescheiden zu qualifizieren ist, stellt der Autor jedoch eine vorzügliche Belesenheit und umfassende Bildung durch die Benutzung einer ganzen Reihe klassischer und mittelalterlicher Schriftsteller unter Beweis.

Die vorliegende, sehr spät entstandene Handschrift bedeutet die bisher älteste bekannte Redaktion; alle jüngeren Abschriften gehen auf diese zurück. Der Sammelband enthält neben der lateinischen Fassung des Lippifloriums (Bl. 1-39) noch dessen mittelniederdeutsche gereimte Übersetzung, welche laut Epilog am 6. März 1487 von einem Anonymus im Auftrag der Augustiner-Chorfrauen des Marienstifts in Lippstadt für den lippischen Grafen Bernhard VII. (1428-1511) aus Dankbarkeit zur Wahrung von Rechtstiteln vollendet worden ist (Bl. 47-110); darauf folgt die gereimte mittelniederdeutsche Erzählung eines unbekannten Zeitgenossen über die „Soester Fehde“ (1444-1449) (Bl. 112-229).

Nach ungesicherter Überlieferung rührt die schmale Sammelhandschrift aus dem Besitz des evangelischen Theologen und Geschichtsschreibers Hermann Hamelmann (1526-1595), der von 1555-1568 als lutherischer Pfarrer an St. Marien in Lemgo amtierte. Wie der schlichte Pergamenteinband mit (ehem.) hellgrünen Seidenschließen vermuten lässt, gelangte die schmucklose, aber für die Haustradition und das adlige Selbstverständnis der Edelherren zur Lippe so bedeutende Handschrift in die Bibliothek des Grafen Simon VI. zur Lippe (1563-1613).

Quellen und Literatur

  • Das Lippiflorium, ein westfälisches Heldengedicht aus dem 13. Jahrhundert. Lat. u. dt. nebst Erläuterungen von HERMANN ALTHOF, Leipzig 1900. (Nachdr. 2011)
  • Magister Justinus: Das Lippiflorium. Lat./dt. Übersetzung: JÜRGEN SCHÖLZEL, in: HANS CHRISTOPH FENNENKÖTTER (Red.), 750 Jahre höhere Schule in Lippstadt. Von der Lateinschule zum Ostendorf-Gymnasium (Lippstädter Spuren 12/1997), Lippstadt 1997, S. 11-53.
  • Handschriftencensus Westfalen, bearb von ULRICH HINZ (Schriften der Universitäts- und Landesbibliothek Münster, 18), Wiesbaden 1999, S. 28f., Nr. 58.
  • BERND-ULRICH HUCKER, Das Lippiflorium Justins von Lippstadt, ein Fürstenlob aus dem Jahre 1247, in: Westfälische Zeitschrift 142 (1992), S. 243-246. (Nachdr. 1997)
  • BERND-ULRICH HUCKER, Magister Justinus von Lippstadt, in: HANS CHRISTOPH FENNENKÖTTER (Red.), 750 Jahre höhere Schule in Lippstadt. Von der Lateinschule zum Ostendorf-Gymnasium (Lippstädter Spuren 12/1997), Lippstadt 1997, S. 54-58.
  • DETLEV HELLFAIER, Justinus von Lippstadt, Lippiflorium, in: DETLEV HELLFAIER (Bearb.), Manuscripta pretiosa et incunabula illuminata. Auswahl aus den Sammlungen der Lippischen Landesbibliothek Detmold und der Erzbischöflichen Akademischen Bibliothek Paderborn [Ausstellungskatalog], Detmold 1995, S. 63-65. Hier online.
  • STEFAN PÄTZOLD, Alterutra fides praevalet, hostis hebet. Überlegungen zu Entstehung und Intentionen des Lippiflorium, in: Lippische Mitteilungen aus Geschichte und Landeskunde, 66 (1997), S. 39-56.
  • THOMAS HAYE, Politische Intention und literarische Konstellation im Lippiflorium des Justinus von Lippstadt, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft, 10 (1998), S. 167-180.
  • Hermann GROßEVOLLMER, Das Lippiflorium aus dem Lippstädter Stift – Heiligenlegende, Gründungsmythos, Rechtsinstrument. Überlegungen zu Entstehung, Quellenwert, Funktion und Datierung der lateinischen Vers-Vita Bernhards II. zur Lippe, in: Lippische Mitteilungen aus Geschichte und Landeskunde, 78 (2009), S. 181-208.