Personalie: Detlev Hellfaier geht in den Ruhestand

von Joachim Eberhardt

Druckfassung in: ProLibris (2013) 4, S. 184-185.

Wenn Detlev Hellfaier zum Ende des Jahres 2013 nach 30 Jahren (!) seinen Dienst als Direktor der Lippischen Landesbibliothek beendet, dann lädt das dazu ein, für einen Moment im täglichen Geschäft innezuhalten und über diesen langen Zeitraum nachzudenken. Mir fällt sofort der Anfang einer berühmten Erzählung von Ingeborg Bachmann ein: „Wenn einer in sein 30. Jahr geht, wird man nicht aufhören, ihn jung zu nennen. Er selber aber, obgleich er keine Veränderungen an sich entdecken kann, wird unsicher; ihm ist, als stünde es ihm nicht mehr zu, sich für jung auszugeben.“ Die Pointe dieser mitleidlosen Beobachtung eines allwissenden Erzählers liegt darin, dass Selbst- und Fremdwahrnehmung auseinandergehen; dass die Zeit, die vergangen ist, in dem Maße, wie der Protagonist nichts mit ihr anfängt, zu einer immer drückenderen Aufgabe wird.

Freiligrath und Grabbe

Was man mit der ihm aufgegebenen Zeit anfängt, daran wird man gemessen. Wer auf Hellfaiers Direktorat blickt, wird sagen können, dass er sein Amt glänzend ausgefüllt hat, selbst wenn über einen so langen Zeitraum nicht jedes Vorhaben gelingen wollte.

Dabei beginnt 1983 sein Dienst unter interessanten Vorzeichen, da Detlev Hellfaier den Chefsessel von seinem Vater Karl-Alexander übernimmt. Der Landesverband Lippe, Unterhaltsträger der Lippischen Landesbibliothek, beeilt sich in einer Pressemitteilung zu verkünden, es handele sich um einen „Ausnahmefall“, und man habe sich von „sachlichen Erwägungen“ leiten lassen. Eine von diesen Erwägungen wird Hellfaiers durchgehend gepflegte Beziehung zu Lippe gewesen sein. In Quedlinburg geboren, hatte er in Detmold Abitur gemacht und sowohl während seines Studiums der Geschichte, Geographie und Historischen Hilfswissenschaften in Gießen und Göttingen, als auch während des anschließenden Referendariats an der UB Münster und am Bibliothekar-Lehrinstitut in Köln über Bestände der Detmolder Bibliothek gearbeitet.

Während er 1979 bis 1983 erste Berufserfahrung als Fachreferent und Direktionsassistent für Öffentlichkeitsarbeit an der Bibliothek der FU Berlin sammelt, organisiert er mit Detmolder Leihgaben eine große Ausstellung zur Studienzeit Christian Dietrich Grabbes in Berlin und forscht im Archiv des Verlags de Gruyter nach Spuren von Grabbe und Freiligrath. Zum Lyriker Ferdinand Freiligrath – vielleicht, weil dieser sein Vorgänger hätte werden können? – pflegt Hellfaier auch als Bibliotheksdirektor eine besondere Beziehung, deren äußeres Zeichen zahlreiche Publikationen und Ausstellungen sind, zuletzt im Jubiläumsjahr 2010. Es ist Ehrensache für ihn, dass die Landesbibliothek die Pflege der DFG-geförderten Datenbank „Freiligrath-Briefrepertorium“ nach dem Auslaufen ihrer Förderung dauerhaft sicherstellt.

Von den übrigen Lieblingsthemen, die sich in der Übersicht der Schriften und Ausstellungen der letzten 30 Jahre offenbaren, möchte ich nur Hellfaiers Arbeiten über eine der schönsten Handschriften der Lippischen Landesbibliothek, Jacob van Maerlants gereimte Naturenzyklopädie „Der naturen bloeme“, hervorheben. Diese Arbeiten führen das von seinen Vorgängern gepflegte Selbstverständnis der Bibliothek als Mitspielerin im reichen Detmolder Kulturleben weiter. Hellfaier blickt dabei immer über den bibliothekarischen Tellerrand und engagiert sich darum für die Gründung eines Literaturbüros Ostwestfalen-Lippe (1990).

Erste Regionalbibliographie auf CD-ROM

Seit Mitte der 80er Jahre beschäftigt Hellfaier die Frage, wie die Landesbibliothek zu modernisieren sei. Ausgangspunkt sind neben der insbesondere im Vergleich unbefriedigenden räumlichen Situation – in Nordrhein-Westfalen machen die benachbarten Universitäten Bielefeld (gegründet 1969) und Paderborn (1972) mit ihren Freihandbibliotheken vor, wie Bestand modern präsentiert werden kann – die Entwicklungen der Informationstechnik. Hellfaier gelingt es, den Unterhaltsträger von der Notwendigkeit der Investition zu überzeugen, und so wird 1992/93 in einem aufwändigen Umbau bei laufendem Ausleihbetrieb das historische Palais an der Hornschen Straße zu einem rund 100.000 Bände fassenden Freihandbereich umgebaut. Als eine der ersten Bibliotheken in Nordrhein-Westfalen setzt die Lippische Landesbibliothek ab 1992 auf ein integriertes Lokalsystem und tritt 1993 dem HBZ-Verbund bei. Die „Integration“ hat, wie in vielen Bibliotheken, die Auflösung der strikten Trennung zwischen Erwerbungs- und Katalogisierungsabteilung zur Folge, die Hellfaier zur Organisation in funktionsbestimmten Teams mit polyvalenten Arbeitsplätzen weiterführt.

Die „Lippische Regionalbibliographie“, dem Selbstverständnis einer Landesbibliothek entsprechend eine der Kernaufgaben, wird bereits seit 1987 als Datenbank geführt und erscheint als erste Regionalbibliographie in Deutschland 1998 auf CD-ROM. Seit 2002 ist sie im Web und enthält inzwischen nicht nur bibliographische Daten, sondern auch Bilder und Dokumente im Volltext. Seit 1996 besitzt die Landesbibliothek bereits Intranet und Internetauftritt. – Solch technische Fortschritte mögen in der Rückschau banal klingen, sind aber in einer Bibliothek ohne eigenes EDV-Personal umso mühevoller und darum bemerkenswerter.

Anfang der 2000er Jahre bestimmen Verwaltungsfragen zunehmend das Tagesgeschäft. Während das Konzept „Literaturarchiv im Grabbehaus“, gedacht als echte Filiale im Herzen der Altstadt Detmolds und literarische Begegnungsstätte auf historischem Grund, nicht aufgeht, schränkt der Unterhaltsträger mit Sparrunden und Unternehmensberatungen den Handlungsspielraum des Bibliotheksdirektors ein. Hellfaier reagiert mit einer charakteristischen Volte, indem er den McKinseys und anderen die Initiative aus der Hand nimmt. Sein Vorschlag eines integrierten Bibliothekszentrums in Detmold lässt alle anderen Strukturideen wie nicht zu Ende gedachte Sandkastenspiele aussehen. Es erscheint ganz folgerichtig, dass er Mitte der 2000er Jahre zum Kulturkoordinator des Landesverbandes Lippe ernannt wird. Die seinerzeit den Beratern vorgetragenen Planspiele zur Weiterentwicklung der Bibliothek bilden schon die Keimzelle für die erst in den letzten Jahren zur Reife gelangten Kooperationsabsichten.

2013 wird, nach Jahren der Planung, die Integration der Bibliothek und Mediothek der Lippischen Landeskirche in die Landesbibliothek vollzogen. Das wäre ohne den 2011-2013 realisierten Magazinneubau, für den Hellfaier ebenfalls hartnäckig seit Jahren geworben hat, nicht möglich gewesen. Seit 2009 arbeitet Hellfaier zudem daran, die Weichen für die Kooperation mit der Bibliothek der Hochschule für Musik in Detmold zu stellen. Mit der Lippischen Landeskirche und der Hochschule für Musik sind gewichtige strategische Partner gefunden, mit denen die Landesbibliothek gelassen in die Zukunft blicken kann.

Achtung und Freundschaft

Lässt man 30 Dienstjahre in dieser gerafften Form Revue passieren, dann fällt manches unter den Tisch, und manches passt auch nicht in diesen Rahmen. Wer Detlev Hellfaier persönlich kennt und erlebt hat – Achtung und Freundschaft, die er sich im Kollegenkreis erworben hat, sprechen aus der Festschrift zum 65. Geburtstag: „Das historische Erbe in der Region“, erschienen im Aisthesis-Verlag 2013 –, der wird sich nicht nur an sein Amt, sondern auch an den Pragmatiker, den Erzähler, den Humoristen erinnern. Ich selbst kenne ihn erst seit 2009. Für mich war er nie ein „junger Wilder“, sondern immer schon ein „alter Fuchs“, der weiß, wie der Hase läuft, und so habe ich viel von ihm profitiert. Gerade darum werden sein Rat, seine Gelassenheit und seine Erfahrung der Lippischen Landesbibliothek, aber auch mir persönlich fehlen. Frei nach Bachmann: Wenn einer nach 30 Jahren geht, wird man nicht aufhören, ihn Vorbild zu nennen.