Jubiläum, Sammlung, Datenbank

Ferdinand Freiligrath in der Lippischen Landesbibliothek Detmold

von Joachim Eberhardt

Druckfassung in: ProLibris 2010, H.4, S. 151-154.

Der 200. Geburtstag hat den in Detmold am 17. Juni 1810 geborenen Dichter Ferdinand Freiligrath wieder stärker in das Bewusstsein der Öffentlichkeit treten lassen. In einem ganzseitigen Artikel wies etwa am 10. Juni Michail Krausnick in der Wochenzeitung DIE ZEIT darauf hin, dass Freiligrath in seiner variierten Fassung seiner Übersetzung „Trotz alledem!“ die Wendung „Wir sind das Volk“ geprägt habe, und das fast 140 Jahre vor der friedlichen deutschen Revolution.

Für das 19. Jahrhundert zählte er, ganz zweifellos, zu den größten deutschsprachigen Lyrikern. Sein erster Gedichtband von 1838, schlicht „Gedichte“ betitelt und bei Cotta in Stuttgart erschienen, erlebte bis zum Ende des Jahrhunderts über 50 Auflagen! Anfang des 20. Jahrhunderts verblasste das Interesse an ihm; die Gründe dafür sich vielfältig. Zwar erschienen in den Jahren 1905 bis 1909 vier Werkausgaben, aber bereits dort vermerkte man von Herausgeberseite, dass die Lyrik Freiligraths bisweilen den Abstand zum Zeitpunkt ihrer Entstehung deutlich merken lasse. Das, was das Publikum zur Mitte des 19. Jahrhunderts begeistert hatte, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts vielen fremd geworden. So erstaunt wenig, dass es Freiligrath nie zum Erscheinen einer eigenen kritischen Werkausgabe gebracht hat. Auch das Fehlen einer umfassenden Briefausgabe macht sich nachteilig bemerkbar, zum einen, weil längst nicht alle bekannten Briefe veröffentlicht sind, zum anderen, weil Freiligrath ein exzellenter und fesselnder Briefschreiber gewesen ist.

Sammlungsgeschichte

Ferdinand Freiligrath, „Der Scheik am Sinai“, eigenhändiger Gedichtentwurf, Bleistift mit zahlreichen Korrekturen, undat., wohl im Herbst 1830, zuerst veröffentlicht 1834 Lippische Landesbibliothek, FrS 181a

Ein Großteil der Briefe liegt wohl, zusammen mit dem übrigen Nachlass Freiligraths, in Weimar im Goethe- und Schiller-Archiv. Aber auch zwei nordrhein-westfälische Bibliotheken beherbergen wichtige Bestände: die Stadt- und Landesbibliothek in Dortmund und die Lippische Landesbibliothek in Detmold. Letztere pflegt eine bedeutende Freiligrath-Sammlung, deren Grundstein der Dichter selbst gelegt hat, denn er übersandte auf Bitten des damaligen Direktors der Fürstlichen Landesbibliothek, Otto Preuß, 1862 aus seinem Londoner Exil frühe Gedichtautographen zur Aufbewahrung in die Bibliothek. In seinem Begleitschreiben formulierte er: „So möge denn der Strom zur Quelle zurückkehren“. Mit dem Wort „Quelle“ meinte er nicht seine Heimatstadt Detmold, sondern tatsächlich die Bibliothek selbst, in der er während seiner Gymnasialzeit als „Bibliothekspage“ gearbeitet, und von deren Büchern er erste Anregungen empfangen hatte.

1910 hatte Freiligraths Tochter Louise Wiens durch eine Schenkung aus dem Nachlass ihres Vaters die Sammlung vermehrt. Dazu gehörten zehn Kinderbriefe des Dichters und seine 34 Bände zählende Jugendbibliothek, zwei seiner Stammbücher und 100 Briefe der Eltern und Großeltern mütterlicherseits. 1951 konnte die Bibliothek von der Familie Wiens vier weitere Stammbücher erwerben. Aus Familienbesitz stammen auch zahlreiche Zeichnungen, Gemälde und Fotos sowie Flugblätter mit Freiligrath-Gedichten aus der Revolutionszeit von 1848. Heute ist die Lippische Landesbibliothek Detmold die Institution, die sich bemüht, möglichst alle noch erreichbaren Originaldokumente und Rezeptionszeugnisse dieses bedeutenden spätromantischen und politischen Lyrikers zu sammeln, zu dokumentieren und für die Forschung bereit zu stellen. In den vergangenen Jahren konnte die Bibliothek diese Sammlung mit Hilfe von Etat-, Sonder- und Sponsoringmitteln durch gezielte Antiquariatskäufe erheblich ergänzen.

Gegenwärtig umfasst die Sammlung 61 Gedichtautographen, über 400 Briefe von Freiligrath und 110 an ihn, Korrespondenzen aus dem Familien- und Freundeskreis, Stammbücher, Akten der Freiligrath-Dotation, Porträts und Ortsansichten sowie nahezu vollständig die gesamte Primär- und Sekundärliteratur einschließlich der Übersetzungen. Dabei ist der Bestand eingebettet in eine gut ausgestattete Bibliothek der Literatur des 19. Jahrhunderts, die Alfred Bergmann für das Grabbe-Archiv der Lippischen Landesbibliothek aufgebaut hat. Für die Forschung fasst die Lippische Landesbibliothek die Neuerscheinungen in der jährlich im Grabbe-Jahrbuch erscheinenden Freiligrath-Bibliographie zusammen, die auch online auf den Webseiten der Freiligrath-Sammlung einsehbar ist.

Auswahlausgabe

Das Jubiläumsjahr des Dichters verlangte nach besonderen Anstrengungen. Ein wichtiges Anliegen war es, die Dichtungen Freiligraths, seit geraumer Zeit vergriffen, zumindest in Auswahl wieder zugänglich zu machen. In der Reihe der Auswahl- und Ausstellungskataloge der Lippischen Landesbibliothek erschien daher im Sommer eine Gedichtauswahl, herausgegeben von Winfried Freund und Detlev Hellfaier. Unter dem Titel „Im Herzen trag’ ich Welten“ sind 73 Gedichte aus allen Schaffensphasen versammelt, vom frühen Exotismus der ersten Veröffentlichungen („Moostee“, „Der Mohrenführst“) über die Rheinromantik („Rolandseck“) und das politische Engagement („Von unten auf“) des freien Schriftstellers bis zu den Gelegenheitsgedichten („Im Teutoburger Walde“) und der Kriegslyrik („Die Trompete von Gravelotte“) des Spätwerks. Beigegeben sind über 50 farbige Abbildungen: Faksimiles von Autographen, zeitgenössische Porträts des Autors und seiner Freunde, Bilder von Lebensstationen; alle Bildquellen stammen aus dem Bestand der Lippischen Landesbibliothek. Eine Zeittafel zu Leben und Werk sowie ein umfangreiches biographisches Porträt von Winfried Freund runden den Band ab.

[Update 20.4.2022: Inzwischen liegt der Band digital vor. Er kann aber weiterhin auch bei uns bezogen werden.]

Jubiläumsausstellung

Ferdinand Freiligrath und Ida Melos (?), Bleistiftzeichnung von Carl Schlickum, 1841/43 Lippische Landesbibliothek, FrS B 2a

Vom 3.9. bis zum 29.10. zeigte die Lippische Landesbibliothek, ebenfalls unter dem Titel „Im Herzen trag’ ich Welten“, eine Freiligrath-Ausstellung mit Schätzen aus ihrem Bestand. Dabei kam ihr die Vielfalt der Sammlungsgegenstände zugute. So konnte sie eben nicht nur die bibliothekarisch hinreichend vertraute „Flachware“ von Autographen und Erstdrucken zeigen, sondern darüber hinaus auch die Lebensstationen, von Detmold über Soest und Amsterdam, die Rheinorte wie Unkel und St. Goar, bis hin zu London und Stuttgart/Cannstatt, in zeitgenössischen Stichen, Bildern und Texten. Besondere Beachtung verdient die Fülle der Freiligrath-Bildnisse aus dem Besitz der Bibliothek, die von frühen Bleistiftporträts des Dichters von Carl Schlickum und Carl Hartmann über die offiziösen Porträtstiche des inzwischen zum Bestsellerautor Gewordenen bis zu einem Ölporträt von Philipp Hoyoll (1867) und zu Abzügen später Porträtfotografien reicht. Eine Hörstation lud zudem ein, die Gedichte so wirken zu lassen, wie sie im 19. Jahrhundert vornehmlich rezipiert worden sind, nämlich laut vorgelesen.

Das Gebäude der Lippischen Landesbibliothek, ein weitläufiges großbürgerliches Palais aus dem 19. Jahrhundert, ist seit 1993 großenteils als Freihandbibliothek ausgebaut. Es bietet zunächst wenig Raum für eine Ausstellung dieser Dimension. Die etwa 200 ausgewählten Exponate wurden daher im ganzen Haus und insbesondere im räumlich beeindruckenden Treppenhaus mit großzügigen Parlatorien präsentiert, so dass während der Ausstellungszeit die gesamte Landesbibliothek im Zeichen Freiligraths stand. Besucher und Passanten wurden bereits von weitem darauf aufmerksam gemacht, da das von vier Säulen getragene Eingangsportal mit einem besonderen Blickfang hergerichtet wurde. – Die Ausstellung wird ab November, in leicht veränderter Form und ergänzt um weitere Stücke, im Düsseldorfer Heinrich-Heine-Institut zu sehen sein. (Mehr zur Ausstellung einschließlich Katalog →hier.)

Kolloquium „Karriere(n) eines Lyrikers“

Was es in Freiligraths Werk – auch heute noch – zu entdecken gibt, zeigte das gemeinsam mit der Grabbe-Gesellschaft und dem Forum Vormärz-Forschung ausgerichtete internationale Freiligrath-Kolloquium „Karriere(n) eines Lyrikers“, das in der Landesbibliothek am 17./18. September stattfand. 20 Wissenschaftler aus Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden und Großbritannien widmeten sich der Person und dem Werk des Dichters. Man konnte Neues zu Freunden des Dichters, zum Begriff des Gelegenheitsgedichts und seiner Freiligrathschen Ausprägung, zur Zensur, zu markanten lyrischen Motiven und zum Traditionsverhalten des Dichters erfahren. Die Beiträge werden in absehbarer Zeit in der Reihe „Vormärz-Studien“ (Bielefeld, Aisthesis-Verlag) erscheinen. (Mehr dazu →hier.)

Freiligrath-Briefrepertorium online

Abschließend muss über ein längerfristiges Engagement der Lippischen Landesbibliothek in Bezug auf Ferdinand Freiligrath berichtet werden. Der Literaturwissenschaftler Volker Giel aus Leipzig, jetzt Weimar, hatte 1998-2000 in einem DFG-Projekt eine frei im Web zugängliche Datenbank sämtlicher bekannter Freiligrath-Briefe aufgebaut; diese drohte ohne dauerhafte institutionelle Unterstützung, Bindung und Pflege wieder aus dem Web zu verschwinden. Dank des Engagements der Lippischen Landesbibliothek konnte die schlichte Existenz der Datenbank zunächst gesichert werden; darüber hinaus wird die Aktualität der enthaltenen Daten gewährleistet. Im Rahmen unserer Informationsdienstleistungen werden neu auftauchende Freiligrath-Briefe eingearbeitet, regestiert, Besitzerwechsel festgehalten, Drucknachweise eingetragen, Korrekturen angebracht, also, mit einem Wort, dafür gesorgt, dass die Datenbank ein unverzichtbares und zuverlässiges Instrument der Freiligrath-Forschung bleibt, inhaltlich wie technisch. Dazu hat die Lippische Landesbibliothek die Domain der Datenbank www.ferdinandfreiligrath.de im Jahre 2008 übernommen und die auf MySQL/PHP basierende Datenbank auf die aktuellen Versionen dieser Programme gepatcht. Volker Giel hatte die Datenbank zu nächst als Vorarbeit zu einer Briefausgabe konzipiert, und bis es zu dieser käme, als deren zwischenzeitlichen Ersatz angesehen. Die Datenbank beschreibt daher jeden einzelnen Brief sehr gründlich, und ihre Briefnummern eignen sich als Referenznachweise. Aufgenommen sind u.a. Details zum Briefversand wie Adressat, Schreibdatum, Sendedatum (Poststempel), Schreibort, Empfangsort, Empfangsdatum, Details zum Inhalt (Incipit, Regest), Details zum Medium (Aufbewahrungsort, letzter Nachweis, Signaturen) und zu dessen Beschaffenheit (Original oder Kopie, Papierformat und -eigenart, Umfang, Erhaltungszustand); erfasst werden zudem auch Beilagen, Briefumschläge und ähnliches sowie Besitzhistorien. Schließlich enthält die Datenbank einen Nachweis des Drucks, sofern ein Druck vorhanden bzw. bekannt ist.

Dass solche Fülle der Erfassung nur taugt, wenn auch die Such- und Blättermöglichkeiten angemessen sind, versteht sich von selbst. Die Datenbank erlaubt den Direktzugriff auf das Adressaten-Register und neben der gezielten Suche nach Adressaten und Daten auch die freie Suche über alle Felder. Personen und Institutionen werden bei der Erfassung normiert; jederzeit ist kenntlich, welche Angaben vom Bearbeiter erschlossen werden mussten und welche direkt der Vorlage entnommen werden konnten.