Literaturarchive, literarische Nachlässe und Sammlungen von Autographen als Landesbibliotheksaufgabe
von Detlev Hellfaier
Druckfassung in: Dichternachlässe, literarische Sammlungen und Archive in den Regionalbibliotheken von Deutschland, Österreich und der Schweiz, hrsg. von Ludger Syré (Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie, Sonderbände; 98), Frankfurt/Main 2009, S. 23-45.
Aufgrund ihres reichhaltigen Bestandes an mittelalterlichen Handschriften, Inkunabeln, historischen Buchbeständen, Musikalien, Sonderbeständen und vor allem an Nachlässen und Autographen kommt den Landesbibliotheken bei der Pflege, Erhaltung, Erschließung, Präsentation und laufenden Ergänzung des kulturellen Erbes eine besondere Verantwortung zu. Die Behandlung eines Themas aus diesem Spektrum der Überlieferung genießt daher stets vornehmliche Aktualität. Landesbibliotheken haben bestimmte Kernaufgaben wahrzunehmen, und wir befinden uns heute in der vorteilhaften Lage, dass diese klar definiert und weitgehend unbestritten sind. Das war nicht immer so, wie man sich leicht vorstellen kann. Das Bibliothekswesen befand und befindet sich in stetem Wandel, und auch die Landesbibliotheken mussten ihre Rolle in einem historischen Prozess erst finden und sich behaupten. Am Beispiel einer der wesentlichen Kernaufgaben, der Sammlung und Bereitstellung von Nachlässen und Autographen sowie dem Aufbau von regionalen Literaturarchiven, ist dieser wechselhaften Entwicklung noch einmal nachzugehen.
Eingangs erscheint es sinnvoll, das eine oder andere Definitorische vorauszuschicken. Das soll eine gewisse Sicherheit geben und ist zur Einführung nicht völlig abwegig. Denn der Blick in die einschlägige Literatur und auch die Erfahrung lehrt, dass immer dann, wenn sich Bibliothekare, Archivare, Museumswissenschaftler und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, oder auch nur ganz einfach an der Sache interessierte Menschen zusammenfinden, das Verständnis untereinander und damit auch für einander durch unterschiedlich besetzte Fachsprachen und Terminologien erschwert wird. Daraus resultierenden Missverständnissen sollte frühzeitig aus dem Wege gegangen werden. Von Nachlässen – „literarischen Nachlässen, schriftlichen Nachlässen“ – wird hier im Folgenden immer wieder die Rede sein. Gern werden in diesem Zusammenhang die „Richtlinien der Handschriftenkatalogisierung“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die zwischenzeitlich in der 5. Auflage 1992 vorliegen, bemüht, denn da heißt es: „Unter einem schriftlichen Nachlass versteht man die Summe aller Manuskripte und Arbeitspapiere, Korrespondenzen, Lebensdokumente und Sammlungen, die sich bei einem Nachlasser zusammengefunden haben (echter Nachlass) und nach seinem Tode hinzugefügt worden sind (angereicherter Nachlass). Druckwerke sind nur in begründeten Fällen als legitimer Bestandteil eines schriftlichen Nachlasses anzusehen (z. B. eigene Schriften, Handexemplare eigener und fremder Schriften, Widmungsexemplare)“.
Dem mag man wohl weitgehend folgen können. Und natürlich ist nicht ernsthaft zu widersprechen, wenn sicher korrekt zwischen einem „echten Nachlass“ und einem „angereicherten Nachlass“ unterschieden wird, ob diese Unterscheidung nun allerdings sehr praxisnah ist, sei einmal dahingestellt: gerade Landesbibliotheken mit ihrer Archivfunktion ist es im besonderen aufgetragen, ihre Sammlungen zu ergänzen und zu komplettieren. Und so geht man mit der Behauptung sicher nicht fehl, dass wohl nahezu jeder „echte Nachlass“ im Laufe der Zeit zu einem „angereicherten Nachlass“ mutiert. Auch die vollständigste Übergabe – sofern es diese überhaupt gibt – wird doch niemanden zu der geradezu fahrlässigen Annahme verleiten, man habe jetzt alles und es gäbe nichts mehr. Was die Druckwerke angeht, reicht die Identifikation mit der DFG-Definition nicht allzu weit: es dürfte sicher unstreitig sein, dass eine Privatbibliothek hervorragend geeignet ist, Einblicke in Bildung, Interessenlage, geistiges Umfeld und Liebhaberei ihres Besitzers zu vermitteln; dass man bei einem Literaten im günstigen Falle damit unmittelbar die Stoffquellen in die Hand bekommt, aus denen er geschöpft hat, sei nur am Rande erwähnt; und es scheint in keiner Weise zwingend zu sein, dass diese Druckwerke stets Arbeitsspuren aufzuweisen hätten. Ich besäße jedenfalls gern die Bibliothek eines berühmten Dichters des 19. Jahrhunderts im Literaturarchiv der Lippischen Landesbibliothek in Detmold, doch dessen Büchersammlung steht schon lange in Boston. Darauf ist noch einmal zurückzukommen.
Bevor wir uns mit den Motiven und Hintergründen befassen, warum und wie Autographen in Bibliotheken gesammelt, erbeten, gekauft, aufbewahrt, erschlossen und verfügbar gemacht werden, ist es sicher angebracht, sich eine weitere Definition in Erinnerung zu rufen: Das Neutrum „Autograph“ (von griech. auto = selbst und graphein = schreiben) bedeutet zunächst einmal soviel wie „Selbstschrift“. Das hat sich im Deutschen glücklicherweise nicht durchsetzen können. Allein der regelwidrige, selbst von Goethe benutzte Plural „Autographen“ konnte sich behaupten, denn eigentlich müsste er doch – in Analogie zu Epitaph-Epitaphe – „Autographe“ lauten. Der Begriff ist jedenfalls international gebräuchlich: im Französischen l’autographe, im Englischen the autograph und im Italienischen il autografo. Verwandt ist natürlich der Begriff „Handschrift“ oder „Manuskript“ (von lat. manu scriptum = mit der Hand Geschriebenes), die Grenzen zum Autograph sind bisweilen fließend, doch hat man sich im Laufe der Zeit dahingehend geeinigt, mit „Handschrift“ in erster Linie die ungedruckten Bücher und die sonstige Überlieferung des Mittelalters und der Frühen Neuzeit zu bezeichnen. Die Produktpalette Handschrift-Autograph reicht immerhin vom Vollziehungsstrich in einer mittelalterlichen Urkunde über Unterschriften („Autogramme“) bis hin zu ganzen Werkmanuskripten, von Korrekturen und Randbemerkungen oder beschrifteten Visitenkarten („Billets“) und Widmungs- oder Albumblättern bis hin zu Selbstzeugnissen jeglicher Art (Tagebücher, Memoiren, Briefe usw.). Ausgeschlossen bleiben nur Typoskripte, es sei denn, dass die maschinenschriftlich erstellten Texte – vor Erfindung der Schreibmaschine waren durchaus auch Probedrucke oder -abzüge üblich – wenigstens handschriftliche Paraphen, Korrekturen, Ergänzungen oder Streichungen aufweisen. Seit es beliebig reproduzierbare PC-Ausdrucke gibt, die auch die korrigierten oder veränderten Vorstufen am Bildschirm nicht mehr preisgeben, haben Schreibmaschinentexte, selbst sog. (Kohlebögen-)Durchschriften an Interesse gewonnen, doch sollten sie wenigstens abgezeichnet sein, um als Autographen gelten zu können.
Damit ist der Begriff des „Autographs“ vielleicht äußerlich hinlänglich umschrieben, „von innen“ erklärt ihn in zwei lesenswerten Abhandlungen über das „Handschriftensammeln“ und „Die Welt der Autographen“ von 1923 und 1927 sehr schön und einfühlsam Stefan Zweig: Er sprach vom „Augenblick“, der „gleichsam versteinert im Papierblatt“ erfasst worden sei und nannte Autographen „Lebensspuren, Blitzlichter bestimmten Augenblicks,“ um dann hinzuzufügen: „Man kann in ihnen nebeneinander ephemere und historische Sekunden ablesen und die ganze Skala irdischer Gefühle: Eile und Zorn, Qual und Entzückung, Hass und Verliebtheit, Müdigkeit und Anspannung; sie wechseln darin wie wandernde Wolken über einem Wasser. So ist jedes einzelne Blatt ein Abdruck, eine Spur entschwundenen Wesens und zugleich tingiert vom Stern der Stunde“.
„Literaturarchiv“ bedarf heute sicher keiner näheren semantischen oder inhaltlichen Bestimmung mehr. Es ist die Gesamtheit einer institutionalisierten Sammlung der beschriebenen Phänomene von literarischen Nachlässen, Autographen, Lebenszeugnissen, Bild- und Tonquellen, Aufführungsmaterialien, Erst- und Handausgaben und allen Stufen der Rezeption von Schriftstellern. Natürlich ist damit auch die Aufbewahrung und Unterbringung, die Erschließung, Pflege und Fortführung, Präsentation und vor allem die Benutzung, deren Regeln und Technik gemeint. In der Fachdiskussion besteht schon seit langem weitgehender Konsens darüber, was man darunter zu verstehen hat, welche Aufgaben zuzuordnen sind, wie das Verhältnis zu Bibliothek und Archiv in Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu beschreiben ist. Für die vorliegenden Ausführungen gilt nur die Einschränkung, dass Literaturarchive nicht als selbständige Einrichtungen, wie es etwa die beiden großen selbständigen Literaturarchive Deutschlands, das Weimarer Goethe- und Schillerarchiv (besteht seit 1889, heute zur Stiftung Weimarer Klassik gehörend) und das Deutsche Literaturarchiv in Marbach (entstanden 1955 in Anlehnung an das Schiller-Nationalmuseum) sind, sondern als Abteilungen oder Sonderabteilungen von Landesbibliotheken behandelt und begriffen werden, von Institutionen also, deren Hauptaugenmerk sich zunächst einmal nicht allein auf Nachlässe und Autographen richtet. Wesentlich ist dabei die organisatorische Einheit mit der Landesbibliothek, nicht unbedingt die räumliche. Die ließe sich dank moderner Informations-, Kommunikations- und logistischer Mittel heute leichter denn je überwinden, gleichwohl vorhanden, vereinfacht sie naturgemäß die tägliche Arbeit und vor allem die Benutzung.
Nun zu den Landesbibliotheken. Gebraucht wird allein den Begriff der „Landesbibliothek“, dies erfolgt der Einfachheit halber und ohne jeden ideologischen Hintergrund, wenngleich sich ein solcher problemlos konstruieren ließe. „Regionalbibliothek“ und „Staatsbibliothek“ dürfen als Synonyma gelten. Sicher ist auch, dass mit „Landesbibliothek“ der ältere Terminus dieser Trilogie offenbar wird. Ein Blick in die verschiedenen Auflagen des „Adreßbuches deutscher Bibliotheken“ von Julius Petzholdt genügt, um deutlich werden zu lassen, dass man irgendwann zwischen 1845 und 1875 mit diesem Begriff zu hantieren begonnen hat. Und da dieses historische Bibliotheksadressbuch seinerzeit ebenso zustande kam, wie heute das „Jahrbuch der Deutschen Bibliotheken“, nämlich durch Umfrage, muss davon ausgegangen werden, dass die Bibliotheken selbst es waren, die sich – zwar noch offiziös – entweder programmatisch so benannten oder andererseits damit bereits einen eingetretenen Zustand beschrieben. Ihr Selbstverständnis bewegte sich jedenfalls in eine eindeutige Richtung. Offiziell eingeführt wurde die Bezeichnung „Landesbibliothek“ zeitgleich mit derjenigen der „Staatsbibliothek“ natürlich erst nach der Revolution von 1918 /19, als diese Bibliotheken ihre bis dahin im Namen getragenen Herrschaftsprädikate „Königlich“, „Großherzoglich“, „Herzoglich“, „Fürstlich“ gegen die landsmannschaftliche Variante „Lippisch“, „Oldenburgisch“, „Württembergisch“ oder „Sächsisch“ in Verbindung mit Landes- oder Staatsbibliothek eintauschten.
Bleibt noch darauf hinzuweisen, dass die wissenschaftlichen Stadtbibliotheken, aus guter Tradition und ohne sie ständig ausdrücklich zu erwähnen, ebenso mit einzubeziehen sind wie alle anderen Bibliotheken gleich welchen Ursprungs, die landesbibliothekarische Funktionen ausüben; dazu zählen vor allem eine Reihe namhafter Universitätsbibliotheken. Wenden wir uns nunmehr den landesbibliothekarischen Aufgaben unter besonderer Berücksichtigung der hier in Rede stehenden Thematik zu. Dazu muss für einige Zeit die doch recht abstrakt-theoretisierende Ebene verlassen werden.
Im Juli des Jahres 1862 schrieb ein Dichter, der sich im Exil im Ausland aufhielt, an einen Bibliothekar in seiner Geburtsstadt:
„… Habe herzlichen Dank für die ehrenvolle Auszeichnung, derer Du mich würdigen willst! Was könnte mir angenehmer und willkommener sein, als die ersten Handschriften einiger meiner Gedichte in der Dir anvertrauten Bibliothek niederlegen zu dürfen, – in derselben Bibliothek, der ich mit meine frühesten Anregungen verdanke und, als Bibliothekspage […] auf ihren Leitern hangend, bald in jenes rothgebundene Exemplar der ersten Ausgabe von Vossens Odyssee, (mit dem Autographen des alten Gleim auf dem Vorsatzblatte), bald in die bildervollen Quartanten des Hawkesworth’schen Reisewerkes mich vertiefte, statt die mir zum Aufstellen anvertrauten Bücher von Repositur zu Repositur zu schleppen.
So möge denn der Strom zur Quelle zurückkehren! Mit anderen Worten: Ich schicke Dir hiermit […] die nachstehend verzeichneten Manuskripte (sämmtlich aus meiner früheren Zeit, 1831-36) […]
Alles wie Du sehen wirst, Brouillons, erste Niederschriften; die eine mehr, die andere weniger durchcorrigirt; hin und wieder mit Abweichungen von den Drucken; zum Theil von der komisch contrastirenden Folie sonstiger Scripturen sich abhebend, […] und dadurch deutlich genug verrathend, daß sie hastig zwischen anderer Arbeit hingeworfen wurden. Du hast hier eben die Werkstatt: Staub und Gehämmer und Hobelspäne! Und ich denke mir, daß es Eurer Theilnahme an den Bestrebungen des Landsmanns und Jugendgenossen vielleicht am liebsten so ist. Jedenfalls wirst Du mir zugeben, daß ich nicht eitel bin. Nicht mancher Poet, glaub’ ich, ließe sich bei der Arbeit so belauschen, nicht mancher über die Schultern so aufs Blatt sehn!
Nun, lieber Freund, habe nochmals den herzlichsten Dank für alle Güte und laß die armen grauen Blätter Deiner Nachsicht empfohlen sein! Ich will nur gestehen, daß ich sie gestern Abend nicht ohne eine gewisse Beklemmung aus uraltvergrabenen Convoluten für Dich hervorgesucht habe. Und jetzt entlasse ich sie mit einer Art von väterlicher Zärtlichkeit, über die mich selbst ein Lächeln anwandelt …“
Der Verfasser dieser warmen Zeilen war Ferdinand Freiligrath. Geboren 1810 in der lippischen Residenzstadt Detmold, gestorben 1876 in Cannstatt. Als er diesen Brief schrieb, befand er sich bereits seit über einem Jahrzehnt im englischen Exil und verdiente als Agent der General Bank of Switzerland in London knapp bemessenen Lebensunterhalt. Im Jahre 1868 ermöglichte ihm eine Nationaldotation des deutschen Volkes die Rückkehr nach Deutschland und angemessenes Auskommen. Das, was er 1862 an Manuskripten übersandte, waren recht bekannte und beliebte Verse aus dem frühen Zyklus seiner exotischen Poesie, unter anderem „Der Blumen Rache“, „Der Scheik am Sinai“, „Der Alexandriner“, „Gesicht des Reisenden“, ferner zwei Übersetzungen und – zweifellos von besonderem Wert – das ergreifende Gedicht „Bei Grabbes Tod“. Der Dramatiker Christian Dietrich Grabbe stammte wie Freiligrath aus Detmold. Empfänger des Briefes und der autographen Beilagen war der Geheime Oberjustizrat Otto Preuß, damals Direktor der Fürstliche-Öffentlichen Bibliothek zu Detmold, also der heutigen Lippischen Landesbibliothek. Preuß leitete die Bibliothek seit dem Jahre 1838; damals hatte man im übrigen, das möchte ich der Vollständigkeit halber hier einfügen, zunächst Freiligrath die Bibliothekarsstelle angeboten. Der hatte aber abgelehnt, was nicht verwundert, war er doch gerade im Begriff, durch seine erste bei Cotta erschienene Sammlung „Gedichte“ zu Weltruhm zu gelangen: In einer Duodezresidenz wolle er sein ferneres Leben nicht fristen und dem „kleinen Preuß“ (der war nämlich sechs Jahre jünger) auch nicht im Wege stehen, schrieb er einem Freund.
Doch zurück zu dem zitierten Brief. Was ist festhaltenswert im Hinblick auf die hier interessierende Themenstellung über literarische Nachlässe, Autographen und Literaturarchive als Aufgabe von Landesbibliotheken? Ein Direktor einer Landesbibliothek bittet einen Schriftsteller um Werke von dessen Hand, also um Autographen. Handschriftliches also, das, wäre es im Besitz des Poeten geblieben, später einen bescheidenen Teil seines Nachlasses ausgemacht hätte. Bindeglied zwischen Bittsteller und Schenker war die Region, hier sogar noch enger: die gemeinsame Geburtsstadt Detmold, und, da wir hier unmittelbare Zeitgenossen vor uns haben, sogar persönliche Bekanntschaft. In diesem Zusammenhang muss man sich aber vor Augen führen: Ferdinand Freiligrath hat sich die geringste Zeit seines Lebens in Detmold aufgehalten, als Vierzehnjähriger verließ er mit mittlerer Reife das hiesige Gymnasium, ging nach Soest, machte eine Kaufmannslehre. Spätere Besuche an den Stätten der Kindheit sind an einer Hand abzuzählen. Als lippischer Schriftsteller hat er sich nie gesehen, auch wenn seine Lyrik natürlich hier und da heimische Motive verarbeitet: den Teutoburger Wald, die Senne, eine große Heidelandschaft im Südosten der Münsterländer Bucht, und anderes. Als westfälischer Dichter vielleicht schon eher, zumindest anfangs, als Dichter des deutschsprachigen Raumes über die engen Grenzen deutscher Kleinstaatlichkeit hinweg – selbstverständlich!
Das alles und auch das Verdikt des ehedem von der preußischen Justiz verfolgten „Trompeters der Revolution“ hinderte den Bibliothekar Preuß 1862 nicht daran, die Landsmannschaft, die durch die Geburt begründete und damit unauflösliche Verbindung zum „Land“ oder moderner, vielleicht auch unpolitischer zur „Region“ als ausschlaggebendes Kriterium für den Erwerb der Autographen zu bewerten. Der Schenkung ging offensichtlich ein Schreiben an Freiligrath voraus. Dieses ist bisher nicht überliefert, was insofern zu bedauern ist, da man nun nicht unmittelbar von den Motiven erfährt, die den Bibliothekar bewogen haben, den Jugendfreund um Autographen zu bitten. Die Berühmtheit und andauernde Beliebtheit Freiligraths beim Publikum – man denke nur an die zahllosen Auflagen bei Cotta – haben gewiss das Ihrige dazu beigetragen. Vielleicht ist es aber gar nicht nötig, Preuß’ Brief Wort für Wort zu kennen; denn wir wissen aus paralleler Überlieferung und der weiteren Entwicklung, dass sowohl in Detmold wie auch andernorts Bibliotheken dieses Typs im Laufe des 19. Jahrhunderts den entscheidenden Schritt hin zu einem öffentlichen regionalen Bildungsinstitut vollzogen haben. Das wurzelt im Bildungsideal der Aufklärung, hängt mit der Entwicklung und Differenzierung der Wissenschaften, der literarischen ebenso wie der historischen und geographischen, und der daraus resultierenden Literaturproduktion zusammen. Natürlich auch noch mit anderen Ursachen, die hier nicht weiter ausgeführt werden müssen, das wäre eine eigene Untersuchung wert. Wie Bibliothekare an vergleichbaren Bibliotheken war auch besagter Preuß in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Detmold bemüht, neben der klassischen universalen Ausrichtung der Bestände, die Sammlung des Regionalschrifttums zu intensivieren, die Druckschriften davon in einer Regionalbibliographie zu dokumentieren und neben dieser Sammlung eine solche von Autographen gleichsam als Zeugnisse des geistigen und kulturellen Profils des Landes anzulegen. In diesem Zusammenhang ist sein Bemühen um Freiligrath-Autographen zu sehen.
Was natürlich im zitierten Falle bemerkenswert ist: der Dichter selbst legte den Grundstein zu einer Sammlung, die – erheblich vermehrt – heute seinen Namen trägt und Bestandteil eines Literaturarchivs ist, nämlich das der Lippischen Landesbibliothek in Detmold. Dabei war ihm, der im übrigen selbst Autographensammler war, ganz offensichtlich bewusst, dass er mit diesen „Brouillons, erste(n) Niederschriften, die eine mehr, die andere weniger durchcorrigirt“ nicht nur bibliophile Sammlerstücke, sondern Zeugnisse für seinen dichterischen Schaffensprozess aus der Hand gab und sie der beflissenen Nach-Forschung zugänglich machte. Und damit traf er genau den Sinn und Zweck von Literaturarchiven: „Du hast hier eben die Werkstatt: Staub, Gehämmer und Hobelspäne!“
Dass das nicht immer so von prominenten und weniger prominenten Autoren gesehen wurde, ist uns allen geläufig. Denken wir nur an die wiederholt in ähnlichen Zusammenhängen strapazierten Verse Gottfried Kellers, der sagte nämlich: „Werft jenen Wust verblichner Schrift ins Feuer, / Der Staub der Werkstatt mag zugrunde gehen! / Im Reich der Kunst, wo Raum und Licht so teuer, / Soll nicht der Schutt dem Werk im Wege stehen!“ Und wie war das noch mit Franz Kafkas hinterlassenen und zu seinen Lebzeiten unveröffentlichten Manuskripten, die er allesamt den Flammen empfahl? Verantwortungsvoll erfüllte ein handfester Freund (Max Brod) diesen Wunsch des Toten nicht.
Hätte es nur mehr solcher Freunde gegeben und hätte es nur mehr solcher Dichter gegeben wie Ferdinand Freiligrath: die Bibliotheken, die Literaturarchive, die Literaturmuseen, die Stadt- und Staatsarchive, die Akademien und Gesellschaften wären dann erheblich reicher. Dass sein Nachlass nicht zusammenblieb, sondern sich heute auf mehrere Standorte (im wesentlichen Detmold, Dortmund, Weimar) verteilt, muss man ihm nicht ankreiden. Seiner schönen und umfangreichen Bibliothek blieb zumindest das ihr zugedachte Schicksal, nämlich Titel für Titel versteigert zu werden, erspart: sie wurde noch vor dem Auktionstermin von einem wohlhabenden Amerikaner komplett erworben und von diesem später der Boston Public Library vermacht; dort steht sie heute noch. In Deutschland hatte sich keine Hand ernsthaft um sie bemüht, auch nicht in seiner Geburtstadt.
Am Beispiel der Lippischen Landesbibliothek und anhand der Erwerbung der ersten Freiligrath-Autographen sollte deutlich gemacht werden, wie und in welchem Zeitraum eine der später als „Landesbibliotheksaufgabe“ klassifizierten bibliothekarischen Funktion und Kernaufgabe, nämliche die der Pflege von Nachlässen und Sammlungen von Autographen von Persönlichkeiten, die in einer bestimmten Beziehung zur Region stehen, entstanden ist oder entstehen konnte. Und das ist, wie wir wissen, nicht nur in Detmold so gewesen. Um so mehr ist bemerkenswert, dass sich die landesbibliothekarische Fachdiskussion seit der Jahrhundertwende bis in die noch recht greifbare Vergangenheit mit dieser Aufgabe überhaupt nicht sonderlich auseinandergesetzt hat. Selbst in der Zeit zwischen 1920 und dem Zweiten Weltkrieg, als die Landesbibliotheken zu gewichtigem Teil das deutsche Bibliothekswesen geprägt und bedeutende Bibliothekare an ihnen gewirkt haben, findet das Thema „Nachlass oder Autographensammlung als Landesbibliotheksaufgabe“ keinen unmittelbaren Fürsprecher. Und das, obwohl die Bibliotheken in der Frage der Behandlung literarischer Nachlässe in diesen Jahren von archivarischer Seite geradezu eine Steilvorlage erhalten hatten. Denn auf der Suche nach Unterscheidungskriterien von Archiv- und Bibliotheksgut hatte sich Ivo Striedinger 1926 in einem Vortrag, „der in archivarischen Kreisen fast kanonisches Ansehen genießt“(Flach, 1955), auch mit dem Problem der Nachlässe auseinandergesetzt. Er war zu dem Ergebnis gekommen, dass die Registraturen von Dichtern, Gelehrten und Künstlern obwohl Archivgut, aber literarischen Zwecken dienend, den Bibliotheken, diejenigen von Staatsmännern, Politikern, Diplomaten, Beamten und Militärs aufgrund ihrer rechtlichen, geschäftlichen und verwaltungsmäßigen Zweckbestimmung den staatlichen Archiven zuzuweisen sind. Erst Zeit versetzt erntete Striedinger Kritik von seinen Standesgenossen wegen dieser „beinahe fahrlässig“ erfolgten Freigabe literarischer Nachlässe an Bibliotheken. Zwar beurteilte der Berliner Bibliothekar Gustav Abb die Thesen Striedingers recht moderat, doch hatte das weder unmittelbar noch später nennenswerten Widerhall in den Landesbibliotheken gefunden. Das verwundert, denn mehrere Aufsätze, die bis in jüngere Zeit sogar in der Literatur als „grundlegend“ und „weitsichtig“ zitiert worden sind, befassten sich intensiv mit den „Aufgaben der Landesbibliotheken und wissenschaftlichen Stadtbibliotheken“ (Steinhausen, Kassel, 1922), mit der „Landesbibliothek als Bibliothekstyp“ (Eppelsheimer, Darmstadt, 1933), mit den „Landesbibliotheken als Gattung“ (Leppla, Dresden, 1936) und wieder mit den „Landesbibliotheken und ihren Aufgaben“ (Sander, Wiesbaden, 1937; Mecklenburg, Schwerin, 1955; Kunze, Berlin, 1956). In den zitierten Beiträgen ist viel die Rede vom eigenen Standort der Landesbibliotheken und ihre Abgrenzung zur Universitätsbibliothek und zur Volksbücherei, von Wissenschaftlichkeit und Universalität der Bestände, vom Bildungsauftrag, von der Zusammensetzung des Bibliothekspublikums, vom Nutzen der Belletristik, aber auch vom Sammeln der in der Region erscheinenden Publikationen (Pflichtexemplarrecht) und derjenigen über die Region und deren Verzeichnung, von mittelalterlichen Handschriften, von Ausstellungen und Vorträgen. Selbst der Hinweis eines der zitierten Landesbibliothekare, dass „auch die Veröffentlichungen der im Lande geborenen und besonders eng mit ihm verbundenen Autoren“ zu sammeln seien und – nota bene! – dies auf „alle im Lande wohnenden Schriftsteller, die ja den Landesbibliotheken durchweg als Benutzer rasch bekannt werden“ auszudehnen sei, führte kurioserweise nicht dazu, die Sammlung und Pflege literarischer Nachlässe ausdrücklich als Landesbibliotheksaufgabe zu postulieren.
Eine schlüssige Antwort für dieses Schweigen vermag man derzeit nicht zu geben und könnte nur den Schluss ziehen: das Problem der literarischen Nachlässe war entweder von nachrangiger Bedeutung oder schien seinerzeit allen Beteiligten gelöst, die Sache für die Landesbibliotheken eindeutig, so dass es keiner Diskussion mehr bedurfte. Natürlich überzeugt diese Argumentation keineswegs, zumal man sich damals wie heute über weit ephemerere Fragen im Zusammenhang mit Landesbibliotheken weitreichende Gedanken machte.
Und es überzeugt noch weniger, wenn festzustellen ist, dass das Problem der Sammlung und Aufbewahrung der literarischen, künstlerischen und sonstigen Nachlässe spätestens seit Dilthey auch in bibliothekarischen Fachkreisen durchaus bekannt war und thematisiert wurde. Der große Philosoph und Begründer des Historismus, Wilhelm Dilthey (1833-1911), hatte bereits in einem richtungweisenden Vortrag, den er 1889 anlässlich der Gründung der „Gesellschaft für deutsche Literatur“ in Berlin gehalten hat, die systematische Sammlung und archivarische Erschließung handschriftlicher Nachlässe von Schriftstellern als öffentliche Aufgabe gefordert und den neuen Typus des „Literaturarchivs“ als von Archiven und Bibliotheken unabhängige staatliche Einrichtung entwickelt. Dabei hat er von bibliothekarischer Seite durchaus Zustimmung gefunden. Der Hallenser Bibliothekar Langguth, immerhin an einer Universitätsbibliothek mit – später – landesbibliothekarischen Aufgaben tätig, plädierte in seiner Replik auf den Philosophen auch gleich für Literaturarchive in räumlicher Verbindung mit Bibliotheken. Doch damit hatte es sein Bewenden, und man muss zur Kenntnis nehmen, dass Diltheys innovative Vorschläge weithin unbeachtet und unbekannt geblieben sind: denn zur Errichtung solcher Archive und damit zu der geforderten einheitlichen archivalischen Behandlung handschriftlicher dichterischer Nachlässe ist es nicht gekommen. Zwar erschienen seit dem späten 19. Jahrhundert an verschiedenen Bibliotheken Übersichten, Verzeichnisse und Kataloge vorhandener Nachlässe und Autographensammlungen, darunter z. B. an der Königlichen Öffentlichen Bibliothek Hannover, der späteren Niedersächsischen Landesbibliothek, doch ist ein unmittelbarer Zusammenhang mit der von Dilthey aufgestellten Forderung nicht zu erkennen. Das gilt auch für den Tatbestand, dass sich in der Folgezeit verschiedene namhafte Bibliothekare zum Thema „Nachlässe in Bibliotheken“ zu Wort meldeten: Karl Löffler verwies einmal mehr darauf, dass Manuskripte zeitgenössischer Dichter, Briefsammlungen der Neuzeit u.a. von Bibliotheken zu sammeln seien, auch Hermann Degering, Leiter der Handschriftenabteilung der Preußischen Staatsbibliothek, mahnte insbesondere die provinziellen (sic!) und städtischen Bibliotheken, doch auch Manuskripte, Briefe und sonstige Dokumente zum Leben und Schaffen prominenter Autoren zu sammeln, denn „gerade auf diesem Gebiet werde von den Bibliotheken viel versäumt“! Richtig ist allerdings, dass sich die staatlichen Bibliotheken angesichts der zunehmenden Forschungsrelevanz vermehrt für literarische Nachlässe interessierten und diese ihren Handschriftenabteilungen zuführten.
Einer der ersten Bibliothekare, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg grundsätzlich über die „Bedeutung und Verzeichnung und Verwertung“ handschriftlicher Nachlässe äußerten, war Axel von Harnack, Sohn des Theologen Adolf von Harnack (+ 1930). Wenn dieser sich auch in erster Linie auf Nachlässe von Politikern und Gelehrten bezog und natürlich pro domo sprach und den Verbleib des schriftlichen Nachlasses seines Vaters vor Augen hatte, so sprach er sich immerhin, und das geht nun schon in unsere Richtung, für die Abgabe von Nachlässen an ein solches Institut einer Region aus, das schon ähnliches Material beherbergt. Damit waren natürlich vorrangig Landesbibliotheken und Staatsarchive gemeint. Entscheidendes und jedermann einleuchtendes Kriterium für Harnack war nicht so sehr das bewahrende Institut, sondern der Gedanke, dass zusammenhängende Bestandskomplexe für die Forschung von Vorteil seien. Weitere Äußerungen seitens der bibliothekarischen Fachwelt zum Thema „Nachlässe in Bibliotheken“ ließen zunächst auf sich warten. Von archivarischer Seite meldeten sich 1954/55 im Zusammenhang mit einem von der Akademie der Künste in Berlin (Ost) angeregten Gutachten über das „Wesen und die Behandlung schriftlicher Nachlässe von Dichtern, Schriftstellern und Künstlern“ Willy Flach und Heinrich Otto Meisner zum Komplex der Literaturarchive zu Wort. Obwohl sie für die Differenzierung der Landesbibliotheksaufgaben in ihrer engen Ausrichtung auf die Archive nicht ergiebig sind und nach wie vor von bibliothekarischer Seite zu manchem Widerspruch herausfordern, muss wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung für die Thematik kurz und ohne Kommentierung auf sie eingegangen werden. Flach, damals Direktor des Thüringischen Landesarchivs und des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar, entwickelte anhand der archivarischen Grundsätze, dass diesem Schriftgut alle Wesensmerkmale des Archivgutes zukommen, dazu gehört die Registraturfähigkeit ebenso wie die archivische Zuständigkeit, und „es steht daher fest, dass solche Nachlässe als Archivgut zu betrachten und zu behandeln sind“. Gegen Striedinger konstatierte er, dass „der bisher für literarische Nachlässe übermäßig betonte literarische Endzweck bei solcher Betrachtung lediglich eine Zusatzbestimmung zur Definition dieses Schriftgutes als Archivgut“ sei. Vor diesem Hintergrund scheiden seiner Ansicht nach Bibliotheken als Aufbewahrungsorte literarischer Nachlässe aus, und da auch die Einrichtung literarischer Einzelarchive wenig sinnvoll erscheint, wurde nahe liegender Weise der Ausbau des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar zu einem Literaturarchiv von Weltrang empfohlen. Nach einem Überblick über die historische Entwicklung von Archiven und Bibliotheken kommt Meisner zu einem ähnlichen Ergebnis. Schriftliche Nachlässe von „homines literati“, mithin also von Privatpersonen, sind (privates) Registratur- und damit Archivgut, sie zählen nach seiner Auffassung damit nicht zu den Sammlungen nach Art des Bibliotheksgutes. Die Zwecktheorie Striedingers hat für die Unterscheidung von Archiv- und Bibliotheksgut nur relative Bedeutung. Für den Begründer der neuzeitlichen Aktenlehre sind Literaturarchive ebenso Spezialarchive wie Kirchen- oder Wirtschaftsarchive, „etwas Drittes zwischen den Bibliotheken und Archiven“, im Charakter aber letzteren ähnlicher. Sie erfordern den besonderen Typ des Literaturarchivars, der Germanist und Archivar sein sollte und nicht Germanist und Bibliothekar. Auch Meisners Intention zielt auf ein zentrales Literaturarchiv.
Auf dem Deutschen Bibliothekartag 1956 in Berlin referierte mit Wilhelm Hoffmann, dem Direktor der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, aus gegebenem Anlass nach langer Vakanz ein Bibliothekar zum Thema „Bibliothek, Archiv, Literaturarchiv“. Hintergrund war eine Anfang 1956 in Marbach veranstaltete Literaturarchiv-Tagung unter Beteiligung von Bibliothekaren, Archivaren, Museumsfachleuten und Literaturwissenschaftlern, die eben diesem Fragenkomplex gewidmet war. Vor dem ganz aktuellen Hintergrund der Gründung des „Deutschen Literaturarchivs“ in Marbach/Neckar formulierte man immerhin als kleinsten gemeinsamen Nenner einige Thesen. Die zweite These berührt unser Thema und lautet: „In der Erkenntnis der Tatsache, dass z. Zt. [d. i. 1956] und auch in Zukunft die regionalen Bibliotheken in dieser Hinsicht [gemeint: für die Pflege literarischer Nachlässe und Sammlungen] für das Gesamtgebiet der deutschen Literatur nicht ausreichen werden, wird empfohlen, das Schiller-Nationalmuseum in Marbach und das Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar weiter auszubauen …“ [die beiden sollen in der Lage sein,] „überall dort, wo regionale Sammeltätigkeit nicht ausreicht, subsidiär eingreifen zu können.“ Immerhin werden hier „regionale Bibliotheken“ als Aufbewahrungsorte solcher Materialien genannt; dass mit den „regionalen Bibliotheken“ tatsächlich die Landesbibliotheken gemeint waren, lässt sich mit guten Gründen annehmen. Denn Wilhelm Hoffmann machte gerade am Beispiel des Hölderlin-Archivs, das der Württembergischen Landesbibliothek angegliedert ist, deutlich, wie dringend notwendig die Verzahnung mit einer universalen Bibliothek ist, die über die „literarischen Hilfsmittel aller Art, Literaturgeschichten, Nachschlagewerke und vor allem Zeitschriften“ verfügt. Ferner ließ er keinen Zweifel daran, dass „literarische und wissenschaftliche Nachlässe, Autographen usw.“ von der Sache her zunächst in die Bibliothek gehören, „jedenfalls nicht in die staatlichen Archive“. Dem Argument der Registraturfähigkeit begegnete er mit der Feststellung, „dass zwischen einem Nachlass und einer Behördenregistratur beinahe mehr Unterschiede als Verwandtschaft“ bestünden und bekräftigte, dass auch in einem Literaturarchiv, gleichgültig ob selbständig oder Abteilung einer Bibliothek, das Provenienzprinzip selbstverständlich ist. Sein Fazit lautet: „Eine theoretische Begründung, dass literarische Nachlässe Archivgut sind, lässt sich nicht halten; weder die Eigentumsfrage noch die Begriffsbestimmung als Registratur lassen sich streng anwenden“. Nach den noch allgegenwärtigen Zerstörungen des Krieges und den damit verbundenen Verlusten appellierte er an die Bibliotheken, sich der Verantwortung für die Nachlässe der deutschen Dichter und Schriftsteller nicht zu entziehen, nach unbekannten Nachlässen zu fahnden und sich grundsätzlich mehr als bisher für diese Aufgabe zu interessieren.
Es ist im Einzelnen nicht bekannt, welche Wirkung von diesem Aufruf tatsächlich ausgegangen ist. Doch entschlossen sich im Jahre 1971 die mittlerweile in der „Arbeitsgemeinschaft der Regionalbibliotheken“ zusammengeschlossenen Landes- und wissenschaftlichen Stadtbibliotheken zum Handeln und erarbeiteten eine Beschreibung des Ist-Zustandes in einem recht umfangreichen Sammelband „Regionalbibliotheken in der Bundesrepublik Deutschland“. Der war dringend nötig und hat im Jahr 2000 eine umfassende Neubearbeitung, die neben der überfälligen Aktualisierung nun auch die neuen Bundesländer mit einschließt, erfahren. Wenn auch hier noch kein dezidierter Aufgabenkatalog für Landesbibliotheken ausgebreitet wird und sich Wilhelm Totok aus Hannover in seiner „Einleitung“ durchaus noch in recht traditionellen Bahnen bewegt, so wird jetzt doch von der Landesbibliothek als Forschungsbibliothek und in diesem Zusammenhang von Sondersammlungen und Archiven gesprochen, die sich mit Persönlichkeiten befassen, die zu Ort oder Region in irgendeiner Beziehung stehenden. Und so fehlt denn auch im deskriptiven Teil des Bandes, der ein Porträt der damals 35 Bibliotheken dieses Genres und ihrer jeweiligen Bezugsregionen bietet, kaum eine Bibliothek, die nicht auf ihren regionalen Sammelauftrag im Hinblick auf Nachlässe und Autographen verweist und vorhandene Sammlungen in unterschiedlicher Ausführlichkeit benennt.
Die erste präzise und weitgehend erschöpfende Kodifikation der Landesbibliotheksaufgaben erfolgte dann in der Tat wenig später: der sogenannte Bibliothekplan ‘73 mit dem Untertitel „Entwurf eines umfassenden Bibliotheksnetzes für die Bundesrepublik Deutschland“ zählt zehn wesentliche „Funktionen“ auf, die von Bibliotheken der 3. Stufe – darunter die Landesbibliotheken – wahrgenommen werden sollen. Da zwangsläufig heute nicht unbedingt vorauszusetzen ist, dass jedermann mit diesen Begrifflichkeiten vertraut ist, sei noch einmal in Erinnerung zu rufen: Der Bibliotheksplan ‘73 verfolgte das Ziel, den Gesamtkomplex „Bibliothekswesen“ in die Raumordnungsprogramme des Bundes und der Länder einzubringen. Grundlage der Planung für die allgemeine Literatur- und Informationsversorgung war deshalb ein Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz zur Raumordnung und das damit verbundene Gliederungs- und Funktionsschema „Kleinzentrum, Unterzentrum, Mittelzentrum, Oberzentrum“. Dementsprechend ergibt sich ein vierstufiges System der Literatur- und Informationsversorgung, wobei der spezialisierte höhere Bedarf auf Landesebene durch eine oder mehrere Bibliotheken der 3. Stufe, also die Landesbibliotheken, abgedeckt werden soll. Bleibt anzumerken, dass der Plan allenfalls in einigen marginalen Teilbereichen umgesetzt werden konnte: das vorgegebene Schema war viel zu starr, die Ziele schon damals weitgehend unrealistisch. Aber als Richtungsbestimmung, Planungs- und vor allem Argumentationshilfe gegenüber Unterhaltsträgern hat er wiederholt brauchbare Dienste geleistet.
Zehn Aufgaben oder „Funktionen“ von Landesbibliotheken führt der Plan auf. Ob Zufall oder nicht: an dritter Stelle und unmittelbar nach der Sammelaufgabe der Regionalliteratur und der Erstellung der Regionalbibliographie heißt es kurz und prägnant: „Nachlässe und Manuskripte von Persönlichkeiten, die in besonderer Beziehung zum Lande stehen, müssen gesammelt und erschlossen werden“. Das war zugegebenermaßen noch recht mager, aber immerhin eine klare und deutliche Aussage zugunsten der Landesbibliotheken. Im Jahre 1993 sah das dann schon etwas anders aus, denn der Bibliotheksplan erlebte nach 20 Jahren aus aktuellem Anlass eine Neubearbeitung – Hintergründe waren einerseits die deutsche Vereinigung, andererseits der informationstechnische Fortschritt -, diesmal jedoch mehr als Strukturbeschreibung, Aufgaben- und Positionsbestimmung gedacht mit eher vorsichtigen Ausblicken. Der Stufenplan wurde beibehalten, zur 3. Stufe gehören die Landesbibliotheken, dort liest sich im Kanon der „besonderen Aufgaben der Landes- und anderen Regionalbibliotheken“: „Sammlung und Erschließung der Nachlässe von Persönlichkeiten mit Bedeutung für das Land, die Region oder die vorhandenen Bestände. Auf- und Ausbau regionaler Literaturarchive“.
Was sich hier so abstrakt und kodifiziert anhört, ist natürlich eine Beschreibung des längst eingetretenen Status quo und entsprach der gängigen Praxis. Denn mittlerweile hatte man sich auf landesbibliothekarischer Seite erheblich stärker mit dem Problem „literarischer Nachlässe und Autographen“ auseinandergesetzt. Es ist nicht als purer Regionalpatriotismus zu verstehen, wenn ich feststelle, dass gerade Nordrhein-Westfalen hier seit dem Ende der 1970er Jahre konstruktive Vorarbeitet geleistet hat. Neben Bayern damals das einzige Bundesland, in dem man sich mit Landesbibliotheksaufgaben intensiv auseinandergesetzt hat. Drei Gutachten oder Empfehlungen aus Nordrhein-Westfalen müssen genannt werden, da sie auch in den anderen Bundesländern große Beachtung gefunden und die Landesbibliotheken und deren Aufgaben nachhaltig in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt haben.
Werner Krieg, der frühere Direktor der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln, hat sich 1979 kenntnisreich und praxisorientiert mit den „Landesbibliotheksaufgaben in Nordrhein-Westfalen“ befasst. Es entsprach der von ihm gewählten Methode, dass er nicht von Funktionen, sondern von vorgegebenen Bibliotheken ausgegangen ist. Mit dem „Begriff der landesbibliothekarischen Aufgaben“ setzt er sich gleichsam einleitend auseinander, da heißt es unmißverständlich: „Die Sammeltätigkeit einer Regionalbibliothek braucht sich nicht auf die gedruckte Literatur zu beschränken, sie kann vielmehr auch mittelalterliche Handschriften, die in der Region entstanden sind oder zu ihr irgendwie in Beziehung stehen, vor allem aber Autographen von Persönlichkeiten aus der Region und Nachlässe von ihnen umfassen. Zuweilen verbindet sich damit eine Forschungsstelle, die den noch durch systematische Ankäufe vermehrten Nachlass (…) wissenschaftlich auswertet“. Zeitgleich erstellte Johannes Rogalla von Bieberstein aus Bielefeld ein Gutachten über „Literarische Nachlässe in Nordrhein-Westfalen“. Das dürfte seinerzeit zur Standardlektüre der mit diesen Fragen befassten Bibliothekare gehört haben und ist auch heute noch lesenswert, wenngleich sich die Gewichtungen und Einschätzungen zwangsläufig verschoben haben. Auf Einzelheiten mag an dieser Stelle verzichtet werden, wichtig ist nur, dass auch er sich für eine dezentrale oder regional differenzierte Lösung ausgesprochen hat, weil diese praxisnäher sei und den bestehenden Strukturen am besten Rechnung trüge. Dementsprechend empfahl auch er, Bibliotheken, die landesbibliothekarische Funktionen ausüben (das sind in Nordrhein-Westfalen Düsseldorf, Münster, Köln, Bonn und Detmold), als Zentren für die Sammlung von literarischen Nachlässen auszubauen. Er hatte also eindeutig die Landesbibliotheken bzw. die Bibliotheken mit Landesbibliotheksaufgaben im Blick, nicht die Archive, nicht Hochschulinstitute oder wen auch immer.
Es spricht zweifelsohne für die Ernsthaftigkeit mit der das Problem der Landesbibliotheksaufgaben in diesem Bundesland, das bekanntlich aus zwei ehemaligen preußischen Provinzen und dem Freistaat Lippe entstanden ist und das abgesehen von Detmold über keine traditionelle eigene Landesbibliothek verfügte, auch von den bibliothekspolitisch Verantwortlichen gesehen wurde, denn zehn Jahre nach Kriegs Gutachten befasste sich vor dem Hintergrund einer parlamentarischen Initiative erneut eine Arbeitsgruppe mit dem Dauerbrenner „Landesbibliotheksaufgaben in Nordrhein-Westfalen“. Die 1990 erarbeiteten sehr ausführlichen Empfehlungen, auf die nicht im Einzelnen einzugehen ist, werden nach wie vor viel beachtet. Als „grundlegend und für alle Regionalbibliotheken vorbildlich“ werden diese nach wie vor beurteilt.
Die Empfehlungen, und nur darauf kommt es hier an, äußern sich durchaus angemessen zum Sammeln und Erschließen von Nachlässen. Sie sehen diese selbstverständlich als Landesbibliotheksaufgabe, sind aber angemessen realitätsnah, wenn sie feststellen: „Das Sammeln und Erschließen von Nachlässen von Persönlichkeiten (…) ist eine Aufgabe von Landesbibliotheken. Da in den meisten Fällen jedoch der Erblasser über den Verbleib des Nachlasses entscheidet, wird die bisherige Streuung auf Archive und Bibliotheken auch weiterhin erhalten bleiben. Somit kann zwar das Sammeln von Nachlässen keine ausschließliche Aufgabe der Landesbibliotheken sein, Landesbibliotheken sind aber legitime Verwalter von Nachlässen (…) Sie sind darum bemüht, Nachlässe einzuwerben. Sie sind offen für jedes Angebot und werden darüber hinaus bei drohendem Verkauf von Nachlässen in Gebiete außerhalb des Landes Nordrhein-Westfalen initiativ, um die Abwanderung von Kulturgut zu verhindern“. Dass die zunächst ausbleibende und dann nur schleppende Bereitstellung dringend erforderlicher Mittel die Umsetzung der Empfehlungen nicht befördert hat, ist nicht Gegenstand dieser Untersuchung.
Abschließend ist die Frage zu stellen: Was prädestiniert die Landesbibliotheken in besonderem Maße als Aufbewahrungsort für literarische Nachlässe und ihr Umfeld? Das lässt sich im Wesentlichen in 12 Punkten enumerativ beschreiben:
Die Landesbibliotheken
- decken die Regionen (Bundesländer, historische Territorien, Landschaften, Stadtregionen) der Bundesrepublik Deutschland weitgehend lückenlos ab;
- verfügen aufgrund ihres bibliothekarischen und fachwissenschaftlichen Personals über die erforderliche professionelle Kompetenz zur formalen und sachlichen Erschließung von Nachlässen und Autographen;
- besitzen und pflegen einen für die Erschließung und weitere Bearbeitung von Nachlässen und Autographen unverzichtbaren umfassenden bibliographischen und Referenzbestand sowie über die einschlägige Forschungsliteratur;
- erwerben dank ihres Sammelauftrages grundsätzlich Primär- und Sekundärliteratur von und über Autoren ihrer Bezugsregion;
- haben aufgrund ihrer regionalbibliographischen Aktivitäten, die zudem häufig mit biographisch-bibliographischen Dokumentationen einhergehen, unmittelbar Einblicke in das literarische Leben ihrer Region in Vergangenheit und Gegenwart;
- sind mit ihrem wissenschaftlichen Stab legitime Partner der literaturwissenschaftlichen Forschung, initiieren, tragen oder begleiten aktiv Editionsvorhaben;
- bieten mit ihren auf Universalität ausgerichteten geistes- und kulturwissenschaftlichen Beständen hervorragende Forschungs- und Benutzungsmöglichkeiten;
- verfügen über moderne Informations- und Kommunikationstechnologie, (in der Regel) über interaktiven Zugang zu elektronischen kooperativen Nachweisinstrumenten (z. B. KALLIOPE) sowie über die unentbehrlichen Hilfsmittel konventioneller Bibliothekstechnik;
- sind imstande, sensibles Bibliotheksgut unabhängig von der Medienform sachgerecht und dauerhaft aufzubewahren; darüber hinaus sind sie kompetent auf den Gebieten der Digitalisierung und Bestandserhaltung;
- pflegen in der Regel gute Kontakte zu Autoren, Schriftstellerverbänden, literarischen Vereinigungen, Literaturbüros, öffentlichen Bibliotheken und Bildungseinrichtungen; sie sind damit vorzüglich geeignet, literarische Nachlässe und Autographen offensiv einzuwerben;
- können Sammlungen, die sich nicht in öffentlichem Besitz befinden, betreuen und/oder fachkundige Unterstützung bei deren Aufbewahrung, Erschließung und Benutzung bieten;
- sind integrativer Bestandteil des örtlichen und regionalen Kulturlebens und durch Ausstellungen, Vorträge, Lesungen und Publikationen aktive Förderer der regionalen Literatur.
Die vorstehenden Thesen lassen sich sicher noch an der einen oder anderen Stelle ergänzen. Ich fasse zusammen: Die Landesbibliotheken haben sich anfangs schwer getan, ihre Aufgaben eindeutig und umfassend zu formulieren, Aufgaben, die sie offenbar seit jeher und durchaus mit systematischen Ansätzen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit unterschiedlicher Intensität wahrgenommen haben. Die Landesbibliotheken reklamieren als auf die Region bezogene und mit ihr eng verbundene wissenschaftlich-kulturelle Einrichtungen mit Forschungs- und Bildungsauftrag für sich das Sammeln und Erschließen von literarischen Nachlässen von Persönlichkeiten, großen und kleinen, die mit der Region durch Geburt, Aufenthalt, Werk und Wirken oder auf andere Weise verbunden sind, als eine ihrer Kernaufgaben. Sie tun dies partnerschaftlich und erheben trotz allem, was eindeutig für sie spricht, sicher keinen Alleinvertretungsanspruch. Entscheidend ist, dass Nachlässe und Autographen für die Forschung aufbereitet, geordnet, verzeichnet und für die Benutzung zugänglich gemacht werden. Elektronischer Zugang, Einbindung in Portale und Digitalisierung ausgewählter oder kompletter Bestände schonen nicht nur das überwiegend sensible Material, sondern führen auch an unterschiedlichen Stellen aufbewahrte Nachlass- und Autographen-Bestände virtuell zusammen; mithin stellt sich m. E. der seit jeher von wenig Weitsicht zeugende und kontraproduktive Dualismus von Landesbibliotheken und Archiven nicht mehr. Ein virtuelles Literaturarchiv darf man sich als letzte Frucht gemeinsamer Bemühungen vorstellen, sicher nicht die schlechteste Lösung.
Wolfgang Dittrich, ehemaliger Direktor der Niedersächsischen Landesbibliothek in Hannover, schrieb vor einem Jahrzehnt in einem viel beachteten Festschriftenbeitrag: „Eine wesentliche Aufgabe der Regionalbibliothek, an die mit Nachdruck zu erinnern ist, liegt darin, ein regionales Literaturarchiv aufzubauen, in dem bibliotheksspezifisches Archivgut, also die Nachlässe von Schriftstellern und Gelehrten, Aufnahme findet und erschlossen wird. Die in Deutschland existierenden zentralen Sammlungen für literarisches Archivgut, das Deutsche Literaturarchiv in Marbach, das Goethe-Schiller-Archiv in Weimar und einige weitere überregionale Einrichtungen sollten durch Archive auf der Ebene der Länder, Landschaften oder Regionen ergänzt werden, weil die zentralen Sammlungen vieles aus der Masse des Angebotenen, das aus ihrer Sicht zweitrangig oder nur regional bedeutsam erscheint, ablehnen müssen. Solche regionalen Literaturarchive, die ja als Teil von Handschriftensammlungen größerer Bibliotheken oder als eigene Einrichtungen an vielen Stellen schon existieren, erfüllen wichtige Funktionen bei der Bewahrung von Nachlässen und damit der Sicherung von Quellen, die sonst der Zerstreuung oder Vernichtung anheim fallen würden“. Dem ist auch aus heutiger Sicht kaum etwas hinzuzufügen.
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