Die Kriegssammlung der Fürstlichen Bibliothek Detmold

Wiederentdeckung von Soldatenzeitungen des Ersten Weltkriegs

von Julia Hiller von Gaertringen

Druckfassung in: Der wissenschaftliche Bibliothekar : Festschrift für Werner Arnold / hrsg. von Detlev Hellfaier… Wiesbaden: Harrassowitz 2009, S. 177-200.

Die Lippische Landesbibliothek Detmold hat im Sommer 2005 eine überraschende Entdeckung gemacht. Bei ihr lagerte, jahrzehntelang unbeachtet, ein Stapel deutscher Feldzeitungen aus dem Ersten Weltkrieg. Vorgefunden wurden sie in Umschlägen, die der damalige Bibliotheksdirektor Ernst Anemüller selbst beschriftet hatte. Nachforschungen im Bibliotheksarchiv ergaben, was es damit auf sich hat.

In den Jahren 1914–1918 hatte die damals noch Fürstliche Bibliothek eine sogenannte „Kriegssammlung“ angelegt und neben Flugblättern, Plakaten und anderen Kriegsdrucksachen auch Feldzeitungen gesammelt. Ziel war, von möglichst vielen unterschiedlichen Blättern wenigstens einige Nummern zu besitzen. So kamen Exemplare von mehr als fünfzig Titeln zusammen. Während des Krieges wurden die in Einzelnummern unvollständig vorliegenden Zeitungen erst einmal nur gesammelt, noch nicht inventarisiert. Sie blieben dann liegen und gerieten in Vergessenheit. Wie andernorts auch hat der verlorene Krieg das Interesse an seinen Dokumenten schnell erlahmen lassen.

Die Lippische Landesbibliothek hat die Zeitungen inzwischen in säurefreie Mappen eingelegt und katalogisiert. In einigen Fällen ist sie Alleinbesitzerin erhaltener Exemplare, in vielen Fällen sind auch anderwärts nur wenige exemplarische Nummern erhalten. Als Quelle für die Regiments-, Kommunikations- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs sind die wiederentdeckten Zeitungsnummern daher ein willkommener Fund.

Kriegssammlungen 1914–1918

Abb. 1 Vogesenwacht 3. Jahrgang, Nr. 8 vom 19. März 1918 Karikatur von Rudolf Eberle

Während des Ersten Weltkriegs bemühte sich eine Vielzahl deutscher Institutionen, das schriftliche Quellenmaterial des Kriegsgeschehens für die Nachwelt zu sichern: „Denn die Hauptwaffe des Weltkriegs war allenthalben das bedruckte, beschriebene und bemalte Papier.“[1] Es gab ein weit verbreitetes Bewusstsein dafür, dass man an einem weltgeschichtlich besonderen Ereignis teil hatte, das im Nachhinein anhand gedruckter Quellen erforscht werden würde. Tatsächlich war der Erste Weltkrieg der erste Medienkrieg der Geschichte; nie zuvor hatte die Publizistik eine vergleichbare Rolle gespielt. Er war aber auch bereits der letzte Krieg, der sich im wesentlichen auf die Printmedien beschränkte. Die vielerorts großen Anstrengungen zum Aufbau von Kriegssammlungen, die es weder früher noch später im Zweiten Weltkrieg in ähnlicher Intensität gegeben hat, belegen den nationalen Kampf- und Siegeswillen und sind als Dokument des Zeitgeistes selbst bereits ein beredtes Zeugnis der Mentalitätsgeschichte.[2] (Abb. 1)

Der Sammeleifer bezog sich nicht nur auf „die sozusagen normale Kriegsliteratur“, die über den Buchhandel vertrieben wurde, sondern auch auf das Quellenschrifttum der Front, auf Feld- und Schützengrabenzeitungen, Gefangenen- und Lazarettzeitungen, Heimatzeitungen von Kommunen, Vereinen, Schulen, Firmen oder Kirchengemeinden für die Frontsoldaten, auf Amtsblätter, Propagandamaterial, Plakate, Flugblätter, Kriegsgraphik etc. pp. Er bezog sich auch nicht nur auf die Veröffentlichungen der eigenen Seite, sondern ebenso auf Drucksachen der Kriegsgegner. Gesammelt wurde nicht nur in Bibliotheken; Museen, Archive, Behörden, Vereine und Privatpersonen engagierten sich beim Aufbau eigener Kriegssammlungen. Es galt als sicher, dass durch die früh einsetzende und umfassende Sammeltätigkeit die Überlieferung auch des ephemeren Kriegsschrifttums weitgehend gewährleistet sei. Die Detmolder Bibliothek war mit ihrer Sammlung also keineswegs eine Besonderheit, doch ist sie wie die meisten anderen Sammlungen nach Kriegsende nicht mehr gepflegt und angemessen für die Benutzung erschlossen worden.

Von besonderem Interesse ist die Frage, wie das Kriegsschrifttum beschafft wurde. Denn die für die Lektüre an der Front und in den Lagern bestimmten Drucksachen konnten in der Regel nicht auf dem Weg des Abonnements oder über den Buchhandel bezogen werden. Ein Postbezug jenseits des militärischen Operationsgebietes war meistens nicht vorgesehen. Für die Beschaffung war es also notwendig, persönliche Beziehungen zu Truppenteilen zu nutzen oder neu herzustellen, „bei den produzierenden Stellen selbst die Einsicht zu erwecken, daß sie ihrerseits dazu mitwirken müssen, ihre Erzeugnisse auf die Nachwelt zu bringen.“[3] Das ist vielfach geschehen und wurde durch die Vielzahl der interessierten Kriegssammlungen im Kriegsverlauf auch institutionalisiert.

Im April 1916 schuf das Kriegsministerium eine zentrale Stelle „für Sammlung und Sichtung der Kriegsdrucksachen“ beim Generalstab, welche die von militärischen Dienststellen an der Front und in der Etappe erzeugten Drucksachen sammeln und an die öffentlichen Bibliotheken weiterleiten sollte. Druckschriften von der Front durften nun nicht mehr direkt von den Militärdienststellen an die sammelnden Institutionen geschickt werden. Da der entsprechende Erlass nicht überall bekannt war, gelangte das gewünschte Material vielfach auch weiterhin auf direktem Weg in die Kriegssammlungen, „aber es trat doch allmählich eine endgültige Stockung ein.“[4] Die Sichtungsstelle hat ihre Funktion nicht zur Zufriedenheit der belieferten Institutionen wahrgenommen; als sie nach Kriegsende aufgelöst wurde, stellte sich heraus, dass sie weder planmäßig noch auch nur annähernd vollständig gesammelt hatte.[5] Sie hat dann das bei ihr liegende Material verteilt, bevorzugt an die Berliner Staatsbibliothek, die Münchener Staatsbibliothek und die Deutsche Bücherei Leipzig, aber auch an andere öffentliche Sammlungen.[6] Da für den größten Teil der Detmolder Feldzeitungen die Herkunft nicht zu ermitteln ist, ist denkbar, dass auch die Detmolder Bibliothek 1919 von der Zentralstelle beliefert wurde.

Wichtig für die Beschaffung waren die Beziehungen der Kriegssammlungen untereinander. Das neugegründete Hindenburg-Museum in Posen[7] war Geschäftsstelle einer Ende 1917 ins Leben gerufenen „Vereinigung der Weltkriegssammler“, die den Informationsaustausch zwischen den Sammlungen ankurbeln und den Austausch von Dubletten ermöglichen wollte. Die Aufforderung zur Mitgliedschaft erging auch an die Fürstliche Bibliothek in Detmold,[8] und diese trat im April 1918 der Vereinigung bei;[9] sie erhielt bis zum Sommer 1919 deren hektographiertes Nachrichtenblatt. Im Mai 1918 war sie Gründungsmitglied des „Verbandes deutscher Kriegssammlungen“. Dessen in der Satzung festgehaltener Zweck war, die Sammeltätigkeit der Kriegssammlungen zu fördern und zu koordinieren, ihre Nutzung zu unterstützen und ihre gemeinsamen Interessen in der Öffentlichkeit zu vertreten.[10] Die mit dem Jahrgang 1919 einsetzende Verbandszeitschrift erschien vierteljährlich bis Ende 1921 und ist die wohl wichtigste Quelle für die Aktivitäten der deutschen Kriegssammlungen.

Nach dem verlorenen Krieg zog Karl von Stockmayer, der die Kriegssammlung der Stuttgarter Hofbibliothek aufgebaut hatte, ein entmutigtes Resümmee, was den künftigen wissenschaftlichen Nutzen der unkoordiniert gebildeten Sammlungen anbetraf. Es seien überall nur „dieselben Anhäufungen von Raritäten und Kuriositäten“ entstanden. Der zu Kriegsbeginn vorhandene Gedanke, „nach einem siegreichen Kriege in Schausammlungen die Erinnerung an große Begebenheiten festzuhalten“, wobei das Gesammelte lehrreich verwendet worden sein könnte, sei obsolet. Die langfristige Erhaltung des auf miserablem Papier gedruckten Materials sei nirgends gewährleistet. Eine Ergänzung und Abrundung der Sammlungen sei unter den gegebenen Zeitverhältnissen nicht denkbar, eine Nachlese auf dem internationalen Sammlermarkt ausgeschlossen. Die mit heißem Bemühen aufgebauten Sammlungen seien folglich für die Zukunft ohne praktischen Wert. Und auch der öffentlich beauftragte Kriegssammler müsse „am Schlusse einsehen, dass unter der Einwirkung der Niederlage und des wirtschaftlichen Niedergangs kein Mensch Zeit und Sinn für wissenschaftliche Mikrologie aufzubringen vermag“.[11]

Die Sammlung der Fürstlichen Bibliothek Detmold

Abb. 2: Ernst Anemüller (1859-1943)

Bereits 1917 erschien ein Verzeichnis der deutschen Kriegssammlungen, erstellt von Albert Buddecke, Vorstand der beim Generalstab eingerichteten Sammel-, Sichtungs- und Verteilungsstelle für amtliche und halbamtliche Kriegsdrucksachen. Es beruhte auf der Selbstauskunft der in einer Umfrage ermittelten Sammlungen, sollte diese erschließen und sie „noch während der Kriegshandlungen nutzbar, nationalen und wissenschaftlichen Zwecken zugänglich“ machen.[12] Genannt sind 217 Sammlungen, darunter auch die Landesbibliothek Detmold: „Sammelt Bücher, Zeitschriften, Zeitungen, alle Sorten von Kriegsdrucksachen, Veröffentlichungen aus Gefangenenlagern, Urkunden von Kriegsteilnehmern und Andenken aus Kriegsgebiet und Heimat.“[13] Eine formale, sachliche oder regionale Begrenzung ist nicht angegeben.

In den Kriegsjahren leitete Ernst Anemüller die Detmolder Landesbibliothek.[14] Anemüller war seit 1884 als Lehrer für alte Sprachen und Geschichte am Gymnasium Leopoldinum tätig und seit 1891 nebenamtlich auch für die Fürstliche Bibliothek verantwortlich. Erst mit der Gründung des Freistaats Lippe und der Verstaatlichung der Bibliothek verließ er den Schuldienst und übernahm 1918 die hauptamtliche Bibliotheksleitung, die er bis 1924 innehatte. Ihm ging es offenbar darum, einen repräsentativen Querschnitt bibliothekarisch relevanter Kriegsquellen in seinem Haus zu versammeln. „Unsere Kriegssamml[ung] ist klein u[nd] nicht systemat[isch] vermehrt. Dazu lag hier keine Veranl[assung] vor“, teilte er 1921 dem Verband deutscher Kriegssammlungen mit, der ein Portrait der Detmolder Sammlung erbat.[15]

Anemüller hat die Detmolder Kriegssammlung auf verschiedensten Wegen zusammengestellt. Eine wichtige Bezugsquelle waren die durch Bücherlieferungen an Feld- und Lazarettbüchereien bestehenden Kontakte, eine zweite die Einlieferungen seiner ehemaligen Schüler, die als Soldaten an der Front dienten, eine dritte das direkte Abonnement der Feldzeitungen und eine vierte die Tauschbeziehungen zu anderen Kriegssammlungen.

Schon seit Kriegsbeginn riefen verschiedene Organisationen zu Bücherspenden für die im Feld stehenden Soldaten auf. Die Fürstliche Bibliothek in Detmold beteiligte sich frühzeitig daran. Zunächst bezog sich dies auf die Ausstattung der in Lippe befindlichen Reservelazarette, in denen etwa 800 Verwundete versorgt wurden. Es entstanden in elf Lazaretten und Erholungsheimen „sorgsam ausgewählte Bibliotheken“, die von Reservisten oder Mitgliedern der Vaterländischen Frauenvereine betreut und nach Anemüllers Aussage „außerordentlich fleißig benutzt“ wurden.[16] Im Sommer 1915 übernahm die Detmolder Bibliothek auch die Literaturversorgung in Lippe stationierter Verbände, beispielsweise des 2. Ersatzbataillons des Königlichen Infanterie-Regiments Nr. 145 in Oerlinghausen[17] und der 5. Kompanie des 2. Ersatzbataillons des Infanterie-Regiments Nr. 55 in Detmold.[18]

Im August 1915 beantragte Anemüller bei der lippischen Regierung, Spenden für Büchersendungen auch an die Front sammeln zu dürfen, da mehrfach der Wunsch an ihn herangetragen worden sei, in dieser Hinsicht tätig zu werden.[19] Weil in diesem Fall an eine Ausleihe von Büchern natürlich nicht zu denken sei, müssten die Sendungen dorthin geschenkweise erfolgen. Anfang Dezember erschien in der Lippischen Tages-Zeitung ein Spendenaufruf der Bibliothek.[20] Geld- und Buchspenden gingen ein, die Presse berichtete.[21] So konnten von der Detmolder Bibliothek auch Büchersendungen an Truppeneinheiten und einzelne Soldaten im Feld ausgehen. Schriftwechsel der Bibliothek mit der Militärspedition und Dankschreiben der Empfänger belegen die erfolgreiche Übermittlung zahlreicher Bücherpakete an die kämpfende Truppe.

Abb. 3: Einlieferungsaufruf der Fürstlichen Landesbibliothek zu Detmold, Beilage zu Büchersendungen an die Front 1916 – 1918

In den Akten sind umfangreiche Adresslisten von Soldaten erhalten, die von der Bibliothek persönlich beliefert wurden; es ist notiert, ob es sich um lippische Staatsbürger handelte und welchem Beruf sie nachgingen, auch viele frühere Detmolder Gymnasiasten und Seminaristen waren darunter. Und auf dem Vordruck[22], der seit Frühjahr 1916 den Sendungen beigelegt wurde, ist die Verknüpfung von Geben und Nehmen im Interesse der Detmolder Kriegssammlung dokumentiert (Abb.3).

Der persönliche Aufruf hatte zumindest gelegentlich Erfolg. Als Gegengabe für die Lieferung einer Bücherkiste übersandte ein Oberleutnant aus Flandern im August 1916 die ersten zehn Nummern der Feldzeitung An Flanderns Küste. Kriegszeitung für das Marinekorps; sie wurden akzessioniert, konnten allerdings im überlieferten Bestand nicht mehr aufgefunden werden.[23] Die Gazette des Ardennes, ein französischsprachiges Blatt für die von deutschen Truppen besetzten Gebiete, schickte Ende 1915 ihre Publikation Un an de journalisme en pays occupé und im September 1916 deren zweiten Teil Parades et ripostes, eine Auswahl der in der Zeitung von November 1914 bis Mai 1916 erschienenen Artikel. Anfang 1916 erhielt die Detmolder Bibliothek auch den Almanach illustré de la Gazette des Ardennes pour 1916 aus Charleville. Die Bände wurden inventarisiert, sind aber ebenfalls nicht erhalten.[24]

In den Akten findet sich auch ein Brief des Detmolder Kaufmanns Friedrich Wilhelm Schulze vom 28. März 1917 an Anemüller. Er ist auf dem Briefpapier einer Eisenwarenhandlung im französischen Ort La Fère geschrieben. Der Verfasser erinnert daran, dass Anemüller ihn im Dezember 1916 gebeten hat, „Geldscheine, Bekanntmachungen u.s.w. aus den besetzten Gebieten“ für die Detmolder Kriegssammlung zur Verfügung zu stellen. Bisher habe er nur mit Zeitungen und anderen Kleinigkeiten dienen können, doch „auf dem tadellosen Rückzuge an der Oise (Noyon, Chauny, Tergnier – La Fère)“ habe er mit seinem Kameraden Ludenberg, Teilhaber der Detmolder Stuckfabrik Lauermann, einige Plakatanschläge entfernt, die er anbei mit einer Zusammenstellung von Geldschein-Mustern für die Sammlung überreiche.[25]

Abb. 4: Zeitungskopf der Kriegszeitung der 4. Armee. Nr. 107 vom 28. Dezember 1915

Die in der Hauptquartieren der verschiedenen Armeen gedruckten Armee-Zeitungen konnten bei den Schriftleitungen direkt bestellt werden. Schriftverkehr dazu ist in der Lippischen Landesbibliothek nicht überliefert. Vorhanden ist lediglich ein Schreiben, das die Redaktion der Kriegszeitung der 4. Armee im September 1915 an die Detmolder Bibliothek richtete. Sie teilte darin mit, dass einige der erbetenen Nummern der Kriegszeitung der 4. Armee (Abb. 4) vergriffen seien, weitere Nummern allerdings übermittelt werden könnten.[26] Anemüller sandte ein Dankschreiben.[27] Die frühen Nummern der Zeitung, die zu diesem Zeitpunkt geliefert worden sein könnten, haben sich in der Landesbibliothek nicht erhalten, doch einzelne spätere Nummern sind vorhanden.

Tauschbeziehungen unterhielt die Detmolder Bibliothek mit der Weltkriegsbücherei in Berlin. Diese war 1915 aus privater Initiative mit dem Ziel gegründet worden, eine möglichst lückenlose Sammlung aller Druckerzeugnisse des Weltkriegs zu vereinigen.[28] Ihr Leiter Friedrich Felger bot im April 1918 Tauschgeschäfte an. In der Liste der Sammelgebiete, aus denen Dubletten abzugeben waren, strich Anemüller folgende Bereiche an: „Deutsche und ausländische Feld- und Gefangenenzeitungen“, „Deutsche und ausländische Bildplakate“, „Maueranschläge aus den bes[etzten] Geb[ieten] West, Ost, auch solche der Republique française“, „Deutsche und ausländische Postkarten, sowie Postalisches“, „Deutsche und ausländische Graphik, sowie Photographien“. Nicht angestrichen sind die Bereiche Notgeld, Lebensmittel- und Wohlfahrtsmarken und Nagelungskarten.[29] Anemüller schickte eine Dublettenliste nach Berlin, aus der sich die Weltkriegsbücherei einiges aussuchte, und diese übersandte daraufhin ihrerseits einige ihrer Dubletten, die aber nicht inventarisiert worden sind.[30] Auf ein entsprechendes Angebot Anemüllers hin erbat sich die Weltkriegsbücherei auch Plakate der Lippischen Kriegsfürsorge, Aufrufe etc., die aus Lippe selbst geliefert werden konnten.[31]

Feldzeitungen 1914 – 1918

„Sofort mit Kriegsbeginn stellte sich heraus, daß an praktischer Bedeutung unter den Erzeugnissen der Druckkunst nicht das Buch, sondern die Zeitung die erste Stelle einnahm.“[32] Soldaten- oder Feldzeitungen, die an der Front oder in der Etappe mit mobilen Vervielfältigungsapparaten oder in den Druckereien besetzter Städte hergestellt wurden, hat es auch schon in früheren Kriegen gegeben. Im Ersten Weltkrieg aber spielten sie eine besondere Rolle, da der Angriffskrieg an allen Fronten sehr schnell in einen langwierigen und zermürbenden Stellungskrieg überging. Die Frontverläufe änderten sich kaum mehr, in den Gefechtspausen nahmen Langeweile und Überdruss überhand. So wuchs das Bedürfnis nach Ablenkung, das durch Musizieren, Zeichnen oder Spielen, vor allem aber durch Lektüre befriedigt werden konnte. Auch die in der Landesbibliothek zahlreich überlieferten Dankschreiben für Büchersendungen belegen dieses offenbar nicht hoch genug einzuschätzende Bedürfnis nach geistiger Anregung. Der Nutzen der Feldzeitung als „Wellenbrecher gegen geistige Abspannung im grausamen Kriegslärm“[33] war unbestritten.

An der Westfront saßen die deutschen Truppen schon nach der Marneschlacht im September 1914 in den Schützengräben fest. Das humoristische Blatt Der Landsturm mit dem Untertitel Einziges deutsches Militair-Wochenblatt auf Frankreichs Flur wurde bereits ab dem 11. Oktober 1914, also zehn Wochen nach Kriegsbeginn, im französischen Vouziers gedruckt. Die 3. Kompanie des Königlich Sächsischen Landsturm-Infanterie-Bataillons Nr. 1 aus Leipzig – ältere Leute, die im Etappendienst Verwendung fanden – stellte, zumindest behauptet dies das Impressum, unter „schmierigen Verhaeltnissen“ gleich eine Auflage von 30.000 Exemplaren her. Das Blatt wurde in der Druckerei der Zeitung L’Impartial de Vouziers produziert, die für die Dauer der deutschen Besetzung ihr Erscheinen „entgegenkommenderweise eingestellt“ hatte. Als selbsternannte „erste deutsche Feldzeitung des Weltkriegs“ erlangte Der Landsturm Berühmtheit. Seine ersten fünf Nummern wurden noch während des Krieges in Leipzig nachgedruckt. Dieser Nachdruck ist in der Lippischen Landesbibliothek vorhanden.

Abb. 5: Zeitungskopf Der Champagne-Kamerad. Feldzeitung der 3. Armee. Nr. 136 vom 21. Juli 1918

Der schnelle Erfolg der ersten Feldzeitungen führte zu rasanten Auflagensteigerungen und ließ bald bei vielen Truppenteilen an der Westfront ähnliche Blätter entstehen. In kurzer Zeit wurde daraus eine Angelegenheit der Heeresleitung, die für den Frontdienst untaugliche Redakteure, Setzer und Drucker zur Feldpresse abkommandierte und für regelmäßige Papierlieferungen sorgte. Verlassene Druckereien, so wird berichtet, „fand man genug“.[34] Mit deren Schriftmaterial konnte natürlich nur in der lateinischen Antiqua gedruckt werden. Umlaute und ß-Typen waren gar nicht vorhanden, oft auch Vokale ohne Akzentzeichen und w- oder k-Lettern nicht in ausreichender Menge. Wurde eine Feldzeitung in Fraktur gesetzt, stammte das Satzmaterial aus dem Reich. So wurde die Kriegszeitung der 4. Armee, von der in Detmold sechs Nummern vorhanden sind, ab April 1916 in Gent mit der aus Deutschland bezogenen Bernhard-Fraktur gedruckt. Auch Der Champagne-Kamerad, die Feldzeitung der 3. Armee, die seit Dezember 1915 in Charleville erschien, wechselte im April 1916 zur Fraktur. Sie wuchs auf den ungewöhnlichen Umfang von 16 Seiten, darunter eine vierseitige Literaturbeilage, verfügte über eine gediegene Bildausstattung und galt als die reichhaltigste deutsche Feldzeitung überhaupt, im Niveau manche deutsche Familienzeitschrift übertreffend. Die Lippische Landesbibliothek besitzt 25 Ausgaben dieser Wochenzeitung aus dem Jahr 1917 und vier Ausgaben von Juli 1918 – da versuchte die 3. Armee gerade erfolglos, das nahe Reims in einer letzten Offensive zu erobern.

Inhaltlich hatten die Feldzeitungen ein unterschiedliches Profil. Manche waren vor allem Nachrichtenblätter, die ihre Leser über die neuesten politischen und militärischen Entwicklungen informierten. Da aber die Tageszeitungen aus dem Reich zumindest an der Westfront fast ohne zeitlichen Verzug verfügbar waren, waren sie in dieser Eigenschaft nicht unverzichtbar. Andere lieferten nicht nur Nachrichten, sondern ließen auch Platz für Erlebnisberichte von Kompanieangehörigen und für Geschichten aus der Heimat; sie druckten kleine Erzählungen und Gedichte von Soldaten, belehrten über die Geschichte der eroberten Städte, lieferten Anekdoten und die neuesten „Grabenwitze“, boten eine Schach- oder Rätselecke. Mit Preisausschreiben wurden die Soldaten immer wieder zur Einlieferung eigener Beiträge animiert. Ziel war, den „Kameraden eine geistige Entspannung des unter der Wucht und Last des furchtbaren Krieges niedergedrückten Gemüts- und Gefühlslebens zu bringen.“[35] Diese Unterhaltungsfunktion verlieh den Zeitungen ihren eigentlichen Wert für die Frontsoldaten. Einige Zeitungen beschränkten sich auch ganz auf sie und verzichteten auf jede Nachrichtenberichterstattung.

Außer den Zeitungen kleinerer Heeresverbände, die mit bescheidenen Mitteln unweit der Schützengräben für die eigene Truppe erstellt wurden, entstanden bald auch die Zeitungen der Armeen, die für viele Regimenter zugleich bestimmt waren. Sie wurden weitab der Front unter vorteilhafteren Bedingungen gedruckt. Wegen ihres größeren Publikums waren die Armeezeitungen inhaltlich allgemeiner gehalten und hatten einen offiziösen Charakter. Sie wurden kostenlos an die Armeeangehörigen abgegeben, konnten aber über Postbezug auch aus anderen Frontabschnitten und aus der Heimat abonniert werden und wurden zudem über die Frontbuchhandlungen vertrieben. In der Lippischen Landesbibliothek sind mit den Zeitungen der 1., 2., 3., 4., 5., 6. und 7. Armee, die während der ganzen Krieges an der Westfront eingesetzt waren, der 9. Armee in Rumänien, der 10. Armee in Polen, der 11. Armee in Serbien, der 12. Armee und der Bugarmee in Weißrussland Beispiele von allen erschienenen Armeezeitungen erhalten. Sie starteten als reine Nachrichtenorgane und entwickelten sich dann bedarfsgerecht auch zu Unterhaltungsblättern.

Die berühmteste Feldzeitung dieses Krieges, die Liller Kriegszeitung, war die Zeitung der 6. Armee. Sie wurde ab Dezember 1914 in der beschlagnahmten Druckerei des vormals „deutschfresserischen“ Echo du Nord in Lille gedruckt und erreichte zeitweilig eine Auflage von 110.000 Exemplaren. Es sind keine Einzelnummern davon in der Lippischen Landesbibliothek vorhanden, doch erwarb Anemüller regelmäßig die seit Pfingsten 1915 halbjährlich erscheinenden Auswahlbände. Diese sollten die große Nachfrage nach vergriffenen Nummern befriedigen und durch ihren Verkauf über den Buchhandel zugleich die kostenlose Verteilung der Zeitung innerhalb der Armee finanzieren. Auch sie wurden in Lille gesetzt, gedruckt und gebunden. Enthalten sind vor allem die feuilletonistischen Beiträge, darunter auch diejenigen, die von Begebenheiten der Besatzungsherrschaft in Flandern berichten. Enthalten sind aber auch Farbtafeln mit Zeichnungen, Fotos und Karikaturen, die der Zeitung beigegeben waren, darunter die Blätter des Karikaturisten Karl Arnold vom Simplicissimus, die wesentlich den Ruhm der Zeitung ausmachten. (Abb. 6a und b)

Abb. 7 Die „Wacht im Westen“ an der Front. Aus: Die Wacht im Westen Nr, 70 vom 22.7.1917

Als letzte Armee im Westen erhielt auf Befehl ihres Oberkommandos im Januar 1917 auch die 1. Armee eine eigene Feldzeitung. Sie erschien zuerst unter dem Titel Die Somme-Wacht, dann unter dem Titel Wacht im Westen (Abb. 7), zuletzt als Kriegszeitung der 1. Armee und ist fast vollständig in der Lippischen Landesbibliothek vorhanden, nur fünf von 191 Nummern fehlen. Es gab jeweils eine Wochen- und eine Sonntagsausgabe, erstere auf Holzschliffpapier für fünf Pfennige, letztere auf gestrichenem weißem Papier mit Illustrationen für 15 Pfennige pro Exemplar. Gedruckt wurde die Zeitung mit Antiqua-Lettern in einem beschlagnahmten Warenlager für Herrenkleiderstoffe in Cambrai. Auch diese Zeitung war sich ihrer Sammelwürdigkeit von Anfang an bewusst: es erschienen aus Einzelbeiträgen zusammengestellte Sammelhefte, und nach der Titeländerung im Mai 1917 wurden die ersten 55 Ausgaben der Somme-Wacht auch gebunden verkauft.

An der Ostfront, die vom Baltikum bis zur Schwarzmeerküste reichte und im Norden von deutschen Truppen, im Süden von österreichisch-ungarischen Verbänden gebildet wurde, entstanden Ende 1915, nach dem Großen Rückzug des russischen Heeres, in kurzer Zeit mehrere Feldzeitungen mit hohen Auflagen für deutsche Armeeangehörige. Bei diesen Blättern stand immer der Nachrichtenaspekt im Vordergrund, weil Zeitungen aus dem Deutschen Reich nicht oder nur mit großer Verzögerung verfügbar waren. Im weißrussischen Grodno begann im November 1915 der Druck der Wacht im Osten als Feldzeitung der 12. Armee. Weiter südlich, im Frontabschnitt bei Brest-Litowsk, wurde ab Dezember 1915 die Feldzeitung der Bugarmee gedruckt. Gleichzeitig gründete die 10. Armee im litauischen Wilna eine Tageszeitung mit dem nüchternen Titel Zeitung der 10. Armee, die mit den Antiqua-Typen einer beschlagnahmten ehemals polnischen Druckerei gesetzt wurde. Das Feuilleton wurde unter dem Titel „Liebesgabe“ geführt, die Antworten auf Leseranfragen befanden sich in der „Ordonnanzmappe“, in der Rubrik „Antreten!“ gab es einen Veranstaltungskalender und unter „Helm ab!“ wurden die Gottesdienste angezeigt.

Abb. 8: Zeitungskopf Deutsche Kriegszeitung von Baranowitschi. Nr. 1 vom 1. Januar 1916

Am Eisenbahnknotenpunkt Baranowitschi in Weißrussland wurde ab Januar 1916 zweimal wöchentlich die Deutsche Kriegszeitung von Baranowitschi (Abb. 8) hergestellt, die mit 197 von 274 Nummern in Detmold erhalten ist. Die Zeitung unterhielt einen anfangs recht umfangreichen Anzeigenteil, der für Feldzeitungen ungewöhnlich war und mit der finanziellen Absicherung bald auch wieder schrumpfte: Soldatenheime, Offizierskasinos und die örtlichen Kammer-Lichtspiele warben für den Besuch; der Kaufmann Bregmann empfahl „zu billigsten Preisen“ Ersatzbatterien, Seife, Schuhwichse, Hosenträger, Tischdecken und Winterwäsche, zu haben im „Kaufhaus des Ostens“ in Baranowitschi; die Händler Sachim, Goldschmidt und Wassermann priesen als Andenken Drechslerwaren aus russischem Birkenholz in allen Preislagen an. Auch deutsche Firmen wurden für Inserate gewonnen: die Gummiwaren-Fabrik Quentin in Halle/Saale erklärte ihre Wasserschutz-Strümpfe für „im Felde unentbehrlich, sichern jedem trockene, warme Füße, selbst bei größter Nässe.“

Der Vorzug der Feldpresse vor den Unterhaltungsblättern aus der Heimat war, dass sie die Gemütslage ihrer Leser genau kannte. Redakteure, Einlieferer und Leser waren Kriegskameraden. Gegenüber den Heimatblättern hatte die Feldzeitung, so zumindest wurde von ihren Befürwortern immer wieder behauptet, den Vorteil größerer Authentizität:

„Die Feldzeitung bietet etwas, das ihr eigen ist und das keine Heimatzeitschrift ersetzt. Sie plaudert soldatisch mit den Soldaten. Sie ulkt mit ihnen nach ihrem Geschmack. Die Redakteure kennen den Krieg, die Mitarbeiter kämpfen noch. Was ihre Federn schildern, ist wahr! Nur die Feldzeitungen bilden Einzelheiten des Krieges echt nach. Da steht keinWitz, von Unwissenden am Schreibtisch erklügelt. Keine Schlachtenmalerei, von einer irregeleiteten Phantasie ins Unmögliche gefälscht. Kein Kriegsidyll, wie es in den deutschen Sonntagsblättern, dort immer und immer sich wiederholend, das Frontleben dem Indianerspiel gleichstellt. Man nenne eine Zeitschrift, die nicht auch heute noch ungewollt, unbewußt das Bild vom Krieg verzerrt darstellt! Jede tut es. Die Feldzeitungen dagegen schützt die Erfahrung ihrer Leiter und Mitarbeiter vor Mißgriffen. Man sieht dort, nur dort, das Wesentliche in reinen Zügen.“[36]

Selbstverständlich war dies eine Stilisierung. Denn kaum einer der Feldzeitungsredakteure gehörte zur kämpfenden Truppe. Und von „echter Nachbildung“ des Krieges kann keine Rede sein, denn wenn auch Alltagsprobleme der Schützengräben in humoriger Form thematisiert wurden, so war an eine weitergehende Kritik der Verhältnisse an der Front nicht zu denken, und die Kriegsgräuel des Massensterbens in den Materialschlachten, das Trommelfeuer und der Gastod blieben gänzlich außen vor. Die Feldzeitungen geben kein Bild der soldatischen Lebenswirklichkeit wieder – sie zeigen, was den Soldaten an geistiger Nahrung angeboten wurde, welche Denkmuster verstärkt, welche Einstellungen geprägt, welche Selbst- und Feindbilder suggeriert, welche Verhaltensweisen als der Kampfmoral förderlich angesehen wurden.

Die Feldzeitungen waren ein Erfolgsprodukt. Zumindest von der Produktion her betrachtet. Denn wieviele Exemplare tatsächlich in die Schützengräben gelangten und dort gelesen wurden, kann nicht festgestellt werden. Viele der Zeitungen erlebten eine stets wachsende Auflage bis zum Kriegsende. Sie konnten auch die Erscheinungshäufigkeit steigern. Bild- und Literaturbeilagen wie Sonderhefte waren möglich. Damit verbunden war eine immer stärkere Professionalisierung, die von der Heeresleitung und ihr untergeordneten Militärdienststellen unterstützt wurde. Seit Gründung der Feldpressestelle[37] beim Generalstab im März 1916 wuchs die Einflussnahme der Heeresleitung, die die Feldzeitungen mit Pressediensten versorgte und ihnen den Wiederabdruck ihrer Artikel nahelegte. Der Gestaltungsspielraum verengte sich, und dem hochsensiblen und kriegsmüden Lesepublikum, dessen Kampfeswilligkeit und Durchhaltevermögen manipuliert werden sollte, blieb das natürlich nicht verborgen. Die Feldzeitungen wandelten sich zu Propagandablättern gleichartiger Ausprägung, und die zu Anfang des Krieges beanspruchte Individualität und Authentizität ging verloren.

Die Sappe Nr. 22/1917, Titelblatt Rumänischer Schäfer. Zeichnung von Karl M. Lechner

Eine wichtige Rolle in den Feldzeitungen spielten die Bilder. Die meisten Illustrationen stammten von den Soldaten selbst. Sie zeigten Land- und Ortschaften in den besetzten Gebieten, Episoden aus den Schützengräben oder Skizzen aus dem Niemandsland dazwischen. Sehr oft aber karikierten sich die Soldaten in ihren Freizeitbeschäftigungen, ihren Urlaubswünschen, ihrer Findigkeit bei der Lebensmittelbeschaffung oder den Eigenheiten der Soldatensprache. Einige Zeitungen räumten der künstlerischen Gestaltung Vorrang ein, lieferten hochwertige Reproduktionen von Kreide- oder Federzeichnungen oder beschäftigten namhafte Zeichner. Dazu gehörte Die Sappe (Abb. 9), die der Münchener Zeichner Karl M. Lechner für das Bayerische Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 19 ab Oktober 1915 an wechselnden Kriegschauplätzen herausgab. Der Name der Zeitung war ein militärischer Fachbegriff: eine Sappe ist ein Laufgraben oder Erdwall vor gegnerischen Festungen, der die vom Gegner unbemerkte Truppenverteilung erleichtern und Soldaten vor Beschuss schützen sollte. Im Steindruck, mit je einem zweifarbigen Bogen hergestellt, war das Blatt, das nur literarische und graphische Beiträge aus dem Regiment enthielt, künstlerisch ausgesprochen ambitioniert.

Ebenfalls im Zweifarbendruck lithographisch produziert wurde die kunstsinnige Vogesenwacht, die die Bayerische Landwehr-Sanitätskompanie Nr. 19 ab Juni 1916 in Colmar drucken ließ. Ihr künstlerischer Leiter Rudolf Eberle betätigte sich im Blatt auch als Illustrator von Bildgeschichten und als politischer Karikaturist. Darüber hinaus enthielt die Zeitung vor allem Landschafts- und Städtebilder aus dem Oberelsass.

Abb. 10: Zeitungskopf Der Eigenbrödler. Nr. 16 vom 17. Juli 1918

Als Lazarettzeitung ist Der Eigenbrödler, die Kriegszeitung für das Kaiserliche Genesungsheim Gembloux im besetzten Belgien, eine Besonderheit unter den Detmolder Feldzeitungen. Das Blatt diente der Unterhaltung deutscher Soldaten, die an der Westfront verwundet worden waren und sich zur Rehabilitation in Spa, später in Gembloux bei Namur befanden. Der Titel sollte dezidiert den Eigensinn der Zeitung betonen, die vollkommen unpolitisch sein und ihren Lesern in erster Linie nützliches Wissen für das praktische Leben nach dem Lazarettaufenthalt vermitteln wollte. Einen humoristischen Anstrich erhielt das Blatt durch die Kopfzeichnung, die einen marschierenden Soldaten mit Pickelhaube und Tornister zeigt, im Mundwinkel eine rauchende Pfeife und über der Schulter eine überdimensionierte Bettpfanne. (Abb. 10)

In der Kriegssammlung der Lippischen Landesbibliothek haben sich auch zwei Zeitungen gefunden, die von deutschen Kriegsgefangenen in britischen Lagern herausgegeben wurden.[38] Die Stobsiade war die Zeitung des deutschen Kriegsgefangenenlagers Stobs in Schottland und erschien als Halbmonatsschrift seit September 1915. Quosque Tandem – „Wie lange noch?“ – hieß eine Zeitschrift für das Kriegsgefangenenlager Knockaloe auf der Isle of Man im Oktober 1916. In britischer Gefangenschaft befanden sich insgesamt 328.000 Kriegsgefangene und 45.000 Zivilinternierte. Sie durften englische, zum Teil auch französische Zeitungen abonnieren und waren daher über das Weltgeschehen einigermaßen informiert. Die Lagerzeitungen brauchten somit keine Nachrichtenfunktion zu erfüllen – sie durften es aber auch nicht: Das britische Kriegsministerium verbot 1916 jegliche politische und militärische Berichterstattung. Beide Zeitungen berichteten über kulturelle und sportliche Veranstaltungen in den Lagern, gaben handwerkliche Tipps und druckten kleine Erzählungen und Gedichte. Im Unterschied zu den Feldzeitungen, von denen anzunehmen ist, dass sie viele ihrer potentiellen Leser gefechtsbedingt gar nicht erreicht haben, konnten die Lagerzeitungen mit gesteigerter Aufnahmebereitschaft und Wirkungsmöglichkeit rechnen. Die Leserquote dürfte außerordentlich hoch gewesen sein.

Hundertzwanzig verschiedene Zeitungen erschienen während des Krieges für die 2,5 Millionen in Deutschland kriegsgefangenen Soldaten und Zivilinternierten der Entente.[39] Diesen war zwar erlaubt, in Deutschland erscheinende Zeitungen zu abonnieren, doch wurde davon, schon aus sprachlichen Gründen, kaum Gebrauch gemacht. Auch den in ihrer Landessprache gedruckten Zeitungen aus den deutschen Besatzungsgebieten ihrer Heimatländer, die den Gefangenen zugänglich waren, schlug größtes Misstrauen entgegen. Auf die Propaganda des Gegners, dem man in die Hände gefallen war, wollte man nicht angewiesen sein. So entstanden schon in den ersten Kriegsmonaten Lagerzeitungen in Eigenregie. In Detmold fehlen nur drei von vierzehn erschienenen Nummern der Wochenzeitung Le Z illustré, die belgische und französische Zivilinternierte ab Januar 1916 im Lager Staumühle in der Senne als „Souvenir de notre captivité“ herausgaben (Abb. 11). Wie in allen französischen Kriegsgefangenenzeitungen spielte darin der „Cafard“ eine große Rolle. Übersetzt wurde der Begriff mit „Stacheldrahtkrankheit“, und es handelte sich dabei um den Lager-Koller als echte Neurasthenie. Auch im Sennelager gab es neben einem Theaterensemble und einem Sinfonieorchester ein „Comité de l’Anti-Cafard“, das die Gemüter der Gefangenen aufzuheitern bemüht war.

Abb. 12: Anzeige für Reisekoffer in den Nea tou Görlitz. Nr. 42 vom 22. Dezember 1916
Der Beitrag soll schließen mit den griechischen Nea tou Görlitz, von denen in Detmold zwei Nummern überliefert sind. Griechenland war noch neutral in diesem Krieg. Deutsch-bulgarische Verbände hatten allerdings in Thrakien die Grenze überschritten, und in Makedonien standen die von der Gegenregierung Venizelos auf Seiten der Entente mobilisierten Truppen. Das in Kavalla stationierte 4. griechische Armeekorps war dadurch zwischen die Frontlinien geraten. Sein Kommandierender General Chatzopoulos nahm daraufhin ein Angebot Hindenburgs an und ersuchte im September 1916 die Oberste Heeresleitung des Deutschen Reiches, seinen Truppen Unterkunft und Verpflegung zu gewähren. 6.500 griechische Soldaten verbrachten die Zeit bis Kriegsende als „Gäste der Reichsregierung“ in der Lausitz. Dort schufen sie sich umgehend eine vierseitige Tageszeitung, die mit griechischen Lettern der Schriftgießereien Klingspor und Schelter & Giesecke in der örtlichen Zeitungsdruckerei produziert wurde. Die Zeitung enthielt vor allem Meldungen von den Kriegsschauplätzen und Nachrichten aus Griechenland. Zugehörig war ein Anzeigenteil mit Annoncen örtlicher Geschäftsleute, die auf zahlungskräftige Kundschaft hoffen durften, denn die Griechen erhielten ihren vollen Wehrsold. Koffer aller Größen dürften vonnöten gewesen sein, um die Einkäufe nach Kriegsende in die Heimat zu transportieren (Abb. 12). Und sicherlich hat sich darin auch manch Exemplar der Nea tou Görlitz als Kriegsandenken befunden.

Anmerkungen

[1] Karl von Stockmayer: Die Zukunft der deutschen Kriegssammlungen, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen 37 (1920), S. 173 [169 – 173].

[2] Zu den Kriegssammlungen allgemein vgl. Albert Buddecke: Die deutschen Kriegssammlungen, in: Deutsches Offizierblatt 21 (1917) Nr. 170 vom 8.11.1917, S. 1029f. und Nr. 171 vom 15.11.1917, S. 1046; Otto Glauning: Umfassende Kriegssammlungen im Rahmen umfassender Bibliotheken, in: Mitteilungen / Verband deutscher Kriegssammlungen 1 (1919), S. 8 – 12; Friedrich Felger: Über verschiedene Kriegssammlungen im feindlichen und neutralen Auslande, in: Mitteilungen / Verband deutscher Kriegssammlungen 1 (1919), S. 57 – 62; ders.: Kriegssammlungen und Revolutionssammlungen, in: Mitteilungen / Verband deutscher Kriegssammlungen 1 (1919), S. 101 – 108; Georg Mentz: Die Bedeutung der Kriegssammlungen, in: Mitteilungen / Verband deutscher Kriegssammlungen 1 (1919), S. 76 – 80.

Gegenstand späterer wissenschaftlicher Beachtung sind bisher lediglich die Kriegssammlungen der Staatsbibliothek zu Berlin und der Universitätsbibliothek Heidelberg geworden. – Zu Berlin vgl. Uwe Schwersky: „Also nachm Krieg, um sechs Uhr abend!“ Zur „Kriegssammlung 1914“ in der Staatsbibliothek Berlin, in: Mitteilungen der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz 20 (1988), S. 144 – 170; „Krieg 1914“. Eine Sondersammlung der Staatsbibliothek zu Berlin. Katalog zur Ausstellung 17. Februar bis 27. März 1999, Berlin 1999; Sammlung „Krieg 1914“ . – Zu Heidelberg vgl. Elke Daucher: Kriegszeitungen in der Universitätsbibliothek Heidelberg. Überlegungen zu Erschließung, Erhaltung und Präsentation des Bestandes. Diplomarb., Stuttgart 2003.

[3] Walther Schultze: Kriegssammlungen, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen 45 (1918), H.1/2, S. 24 [15 – 26].

[4] Felger: Kriegssammlungen und Revolutionssammlungen (s. Anm. 2), S. 103.

[5] Vgl. Walther Schultze: Die Kriegssammlung, in: Fünfzehn Jahre Königliche und Staatsbibliothek. Berlin 1921, S. 79f. [77 – 89]; Gemeinsame Sitzung des Vorstandes und des Ausschusses. Leipzig, 24. Mai 1919, nachmittags 3 Uhr, im Deutschen Kulturmuseum, in: Mitteilungen / Verband deutscher Kriegssammlungen 1 (1919), S. 73f.; Sitzung des Vorstandes und des Ausschusses am 18. Oktober 1919 in Berlin in der Preußischen Staatsbibliothek, in: Mitteilungen / Verband deutscher Kriegssammlungen 1 (1919), S. 114.

[6] Gemeinsame Sitzung des Vorstandes und Ausschusses. Berlin, 11. Februar 1919, in: Mitteilungen / Verband deutscher Kriegssammlungen 1 (1919), S. 35.

[7] Vgl. Heinz Bothmer: Das Hindenburg-Museum Posen, in: Museumskunde 16 (1918/19), S. 29 – 38.

[8] Vereinigung der Weltkriegssammler, Heinz Bothmer, an [die Fürstliche Bibliothek Detmold]. Posen, 31.12.1917, Bibliotheksarchiv der LLB Detmold, Kasten 33.

[9] Vereinigung der Weltkriegssammler, Heinz Bothmer, an Ernst Anemüller. Posen, 19.4.1918, Bibliotheksarchiv der LLB Detmold, Kasten 33.

[10] Vgl. Satzungen der Verbandes Deutscher Kriegssammlungen e.V, in: Mitteilungen / Verband deutscher Kriegssammlungen 1 (1919), S. 6f.

[11] von Stockmayer: Die Zukunft der deutschen Kriegssammlungen (s. Anm. 1), S. 173.

[12] A[lbert] Buddecke: Die Kriegssammlungen. Ein Nachweis ihrer Einrichtung und ihres Bestandes, Oldenburg 1917.

[13] Ebd., S. 17.

[14] Zu Anemüller vgl. Alexandra Habermann, Rainer Klemmt, Frauke Siefkes: Lexikon deutscher wissenschaftlicher Bibliothekare 1925-1980, Frankfurt am Main 1985, S.5f.; Dr. phil. Ernst Anemüller * 26. 9. 1859 Rudolstadt, † 24. 8. 1943 Detmold. Gymnasialprofessor, Bibliotheksdirektor .

[15] Anemüller an Hans H. Bockwitz, Redakteur der Mitteilungen des Verbandes deutscher Kriegssammlungen. Entwurf. Detmold, 14.4.1921, Bibliotheksarchiv der LLB Detmold, Kasten 33.

[16] Anemüller an Johanna Fuchs, Erholungsheim Bad Meinberg. Detmold, 9.12.1915, Bibliotheksarchiv der LLB Detmold, Kasten 33. – Vgl. auch: Die Landesbibliothek und der Krieg, in: Lippische Tages-Zeitung Nr. 124 vom 27.5.1916.

[17] Vgl. Schriftwechsel Anemüllers mit Carl Weber, W. Blasius und dem Vaterländischen Verein Oerlinghausen, 13.8.1915-12.5.1919, Bibliotheksarchiv der LLB Detmold, Kasten 33.

[18] Vgl. Schriftwechsel Anemüllers mit der 5. Kompanie des 2. Ersatzbataillons des Infanterie-Regiments Nr. 55. Detmold, 13.9.1915-5.4.1916, Bibliotheksarchiv der LLB Detmold, Kasten 33.

[19] Anemüller an die Fürstliche Regierung Detmold. Detmold, 5.8.1915, Bibliotheksarchiv der LLB Detmold, Kasten 33.

[20] Aufruf, in: Lippische Tages-Zeitung Nr. 286 vom 7.12.1915.

[21] Büchersendungen ins Feld, in: Lippische Tages-Zeitung Nr. 7 vom 10.1.1916.

[22] Vordruck der Fürstlichen Landesbibliothek Detmold, Bibliotheksarchiv der LLB Detmold, Kasten 33.

[23] Oberleutnant Sorkan an Anemüller. De Haan, 10.8.1916, Bibliotheksarchiv der LLB Detmold, Kasten 33; Akzessionsbuch Schenkungen 1916 – 1918, Nr. 70 vom 16.8.1916.

[24] Akzessionsbuch Schenkungen 1911 – 1915 Nr. 153.1915 und 190.1915 (ohne Datum); Akzessionsbuch Schenkungen 1916 – 1918, Nr. 73 vom 22.9.1916.

[25] Friedrich Wilhelm Schulze an Anemüller. La Fère, 28.3.1917, Bibliotheksarchiv der LLB Detmold, Kasten 33.

[26] Kriegs-Zeitung der 4. Armee, von Hippel, an die Fürstliche Landesbibliothek Detmold. Armee-Hauptquartier, 22.9.1916, Bibliotheksarchiv der LLB Detmold, Kasten 33.

[27] Anemüller an die Kriegszeitung der 4. Armee. Detmold, 4.10.1915, Bibliotheksarchiv der LLB Detmold, Acta generalia Bd. 24.1915.

[28] Hermine C. Schützinger: Die Weltkriegsbücherei in Berlin, in: Mitteilungen / Verband deutscher Kriegssammlungen 1 (1919), S. 67f. – Vgl. auch: 50 Jahre Bibliothek für Zeitgeschichte, Weltkriegsbücherei Stuttgart 1915 – 1965, Frankfurt a.M. 1965; 75 Jahre Bibliothek für Zeitgeschichte 1915 – 1990, Stuttgart 1990.

[29] Weltkriegsbücherei Berlin, Friedrich Felger, an Anemüller. Berlin, 2.4.1918, Bibliotheksarchiv der LLB Detmold, Kasten 33.

[30] Schreiben der Weltkriegsbücherei Berlin, Friedrich Felger, an Anemüller. Berlin, 20.8.1918, Bibliotheksarchiv der LLB Detmold, Kasten 33. Listen der ausgetauschten Dubletten liegen nicht vor.

[31] Weltkriegsbücherei Berlin, Friedrich Felger, an Anemüller. Berlin, 30.8.1918, Bibliotheksarchiv der LLB Detmold, Kasten 33.

[32] Schultze: Die Kriegssammlung (s. Anm. 5), S. 82.

[33] C. Schaeffer: Graphische Pionierarbeit im Felde, in: Typographische Mitteilungen. Offizielles Organ des Verbandes der Deutschen Typographischen Gesellschaften 12 (1915), S. 23 [18 – 23].

Zu den Feldzeitungen vgl. C. Schaeffer: Graphische Pionierarbeit im Felde – Die schwarze Kunst im Kriegsdienste – Feld- und Kriegszeitungen, in: Typographische Mitteilungen. Offizielles Organ des Verbandes der Deutschen Typographischen Gesellschaften 12 (1915), S. 18 – 23, 86 – 89, 146 – 151; Gustav Frotscher: Kriegs-, Lazarett- und Gefangenenzeitungen, in: Typographische Mitteilungen. Offizielles Organ des Verbandes der Deutschen Typographischen Gesellschaften 13 (1916), S. 31 – 40, 106 – 109, 142f., 158 – 160 und 14 (1917) S. 10f., 50, 85f., 146 – 148; Henry Schaper: Soldatenblätter und Kriegsschriften. Erster Teil, Hamburg 1916; Fred B. Hardt: Die deutschen Schützengrabenzeitungen und Soldatenzeitungen, München 1917; Albert Schramm: Deutsche Kriegszeitungen, in: Archiv für Buchgewerbe 54 (1917), S. 1 – 56; Johannes Thummerer: Die Kriegssammlung der Deutschen Bücherei. XII. Feldzeitungen, in: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel Nr. 123, 125, 127 und 129 vom 30.6., 1.6., 4.6. und 6.6.1918, S. 299 – 301, 305 – 308, 310 – 312, 314 – 318; Richard Hellmann und Kurt Palm: Die Deutschen Feldzeitungen, Freiburg i. Br. [1918]; Karl Kurth: Die deutschen Feld- und Schützengrabenzeitungen des Weltkrieges, Leipzig 1937.

Eine inhaltliche Auswertung hat zuerst Anne Lipp vorgenommen: Frontalltag im Ersten Weltkrieg. Feldzeitungen als Dokument des Kriegserlebnisses. Prüfungsarb., Tübingen 1993. In ihrer Dissertation hat sie auf erweiterter Quellenbasis die vorherrschenden Deutungs- und Identifikationsangebote der deutschen Feldpresse in bezug auf die Erfahrungsräume Front, Krieg und Heimat betrachtet und die gezielte Wahrnehmungs- und Meinungslenkung durch militärische Dienststellen untersucht: Anne Lipp: Meinungslenkung im Krieg. Kriegserfahrungen deutscher Soldaten und ihre Deutung 1914-1918, Göttingen 2003 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 159).

[34] Kurt Palm: Vorwort, in: Hellmann/Palm: Die Deutschen Feldzeitungen (s. Anm. 33), S. 9.

[35] Schaeffer: Graphische Pionierarbeit im Felde (s. Anm. 33), S. 23.

[36] Palm: Vorwort (s. Anm. 34), S. 11f.

[37] Zu dieser vgl. Lipp: Meinungslenkung im Krieg (s. Anm. 33), S. 47-57.

[38] Vgl. dazu die in Anm. 33 genannten Veröffentlichungen sowie Hans Bayer: Presse- und Nachrichtenwesen der im Weltkrieg kriegsgefangenen Deutschen, Berlin 1939.

[39] Vgl. dazu Josef Kliche: Zeitungen für Kriegsgefangene, in: Der Bibliothekar 10 (1918) H.1/2, S. 1089f.; Stephan Wangart und Richard Hellmann: Die Zeitung im deutschen Gefangenen- und Interniertenlager. Eine Bibliograpie, Bühl/Baden 1920; Rudolf Häußler: Das Nachrichten- und Pressewesen der feindlichen Kriegsgefangenen in Deutschland 1914 – 1918, Berlin 1940; Rainer Pöppinghege: Im Lager unbesiegt. Deutsche, englische und französische Kriegsgefangenen-Zeitungen im Ersten Weltkrieg, Essen 2006.