Literarische Nachlässe als Quelle der Biographienforschung
von Julia Freifrau Hiller von Gaertringen
Vortrag beim Workshop „Biografienforschung“der Fachstelle Geschichte des Lippischen Heimatbundes Schloss Brake, Lemgo, 25. Oktober 2008
Ziel dieses Vortrags ist es, das Lippische Literaturarchiv, eine Abteilung der Lippischen Landesbibliothek, als Quellenreservoir für die Biographienforschung vorzustellen und einige näherer Erforschung werte, bisher weitgehend unbeachtete Nachlässe als Beispiele zu präsentieren.
Nachlässe sind eine erstrangige Quelle der Biografienforschung, versammeln sie doch die Summe der schriftlichen Unterlagen, die sich bei einem Bestandsbildner zusammengefunden haben:
- Manuskripte zu Büchern, Kompositionen, Aufsätzen und Vorträgen, die der Nachlasser verfasst hat, also Werkhandschriften in verschiedenen Fassungen mit Vorarbeiten und Entwürfen bis hin zu Druckvorlagen und Korrekturfahnen
- Arbeitspapiere, die der Nachlasser beim Abfassen eigener Werke verwendet hat: Notizbücher, Exzerpte, Lektürelisten, Zettelkästen und Materialsammlungen aller Art
- Briefwechsel, die der Nachlasser mit Einzelpersonen und Institutionen geführt hat
- biographische Dokumente, die die Lebensumstände des Nachlassers beleuchten
- Amtliches und Berufliches wie Personenstandsdokumente, Ausweispapiere, Studienbücher, Zeugnisse, Urkunden, Arbeitsverträge, Verlags- und Bühnenverträge, Prozess- und Krankenunterlagen
- Dokumente der privaten Lebensführung wie Tagebücher, Gästebücher, Poesiealben, Haushaltsbücher, Terminkalender, Lebensmittelkarten, Quittungen und Abrechnungen
- als Bilddokumente vor allem Fotos
- des weiteren Dokumente des öffentlichen Wirkens wie Plakate, Programmhefte, Eintrittskarten etc.
- Zum Nachlass gehören auch Sammlungen, die der Nachlasser angelegt hat und anhand derer sich Erkenntnisse über seine individuelle Interessenlage und sein geistiges Umfeld gewinnen lassen – seien es Zeitungsausschnitte, Prospekte, Bilder oder Landkarten, Besprechungen eigener Werke, oder – wie bei Herrn Kleßmann –Zinnsoldaten, die mit seinem Interesse an den Napoleonischen Kriegen unmittelbar zusammenhängen.
- Zum Nachlass gehört zudem die Privatbibliothek des Nachlassers. Sie enthält möglichst auch jene Bücher, die ihm bei der eigenen Arbeit als Quelle gedient haben, und sie ermöglicht weitere Aussagen über das Werk des Nachlassers, wenn diese Bücher auch Arbeitsspuren aufweisen. Widmungsexemplare beleuchten persönliche Beziehungen des Nachlassers.
Im Idealfall sind alle diese Materialien zeitlich lückenlos und vollständig im Besitz einer Persönlichkeit überliefert. Im Normalfall aber sind nur Teile davon vorhanden. Art und Umfang des Materials in seiner zeitlichen oder sachlichen Begrenzung entscheiden dann über die anhand eines Nachlasses möglichen Aussagen.
Jedes in einem Nachlass enthaltene Dokument steht in vielfältigen Beziehungen über den Nachlasser hinaus – Fotos etwa zeigen Ereignisse, Persönlichkeiten, Orte, denen ein Interesse völlig unabhängig vom Nachlasser gelten kann. Es kann von Belang sein für ganz unterschiedliche historische, genealogische, mentalitätsgeschichtliche, literatur- oder sozialwissenschaftliche Fragestellungen. Deshalb ist eine möglichst weitgehende Erschließung der einzelnen Dokumente wünschenswert. Nachlassdatenbanken ermöglichen heutzutage die schnelle Suche spezieller Materialien auch in größeren, sonst vielleicht nicht relevanten Beständen. Anfragen aus aller Welt fördern auch im Lippischen Literaturarchiv immer wieder Überraschendes zutage.
Im Zusammenhang des Nachlasses aber ist jedes wie auch immer geartete Dokument eine Quelle zur Person des Bestandsbildners und gibt mehr Information preis, als wenn es an anderer Stelle separat überliefert wäre. Daraus erwächst der besondere Reiz und der eigentliche Mehrwert des Arbeitens mit Nachlässen.
Nachlässe werden in verschiedenen Institutionen gesammelt: in Archiven, Bibliotheken, Forschungseinrichtungen und Museen. Literarische Nachlässe insbesondere sind eine Domäne der Literaturarchive, von denen wiederum viele Teil einer wissenschaftlichen Regionalbibliothek sind.[1] Das hat gute Gründe: Literarische Nachlässe sind wichtige Zeugnisse des kulturellen Profils einer Region und fallen damit in den Sammel-, Erschließungs- und Erhaltungsauftrag regionaler Bibliotheken. Verschiedene Nachlässe einer Region stehen oft in Beziehung zueinander, sie enthalten Briefwechsel der Nachlasser untereinander und mit Dritten, ergänzen sich in der Überlieferung ähnlicher und sachlich zusammengehörender Materialien und tradieren gemeinsam synchron wie diachron das Spektrum literarischen Lebens in der Region. So entstehen zusammenhängende Bestandskomplexe, die der Forschung die Arbeit sehr erleichtern. In den Regionalbibliotheken steht zudem die gesamte Literatur aus und über die Region zur Verfügung, unabhängig von ihrer Überlieferung in Nachlässen. Dort ist auch über die Region hinaus der literarische Kontext greifbar und der für die Erschließung und Erforschung einzelner Nachlässe unverzichtbare Referenzbestand vorhanden.
Das Lippische Literaturarchiv Detmold
Die Lippische Landesbibliothek sammelt Dichterautographen bereits seit 1862. Damals erbat der Direktor Otto Preuß von seinem Jugendfreund Ferdinand Freiligrath Handschriften für die Sammlung. Freiligrath übersandte aus dem Londoner Exil acht frühe Gedichtautographen und freute sich, sie in der Bibliothek, der er seine ersten literarischen Anregungen verdankte, gut verwahrt zu wissen. Es waren die ersten Autographen der Landesbibliothek. Seither werden, wenngleich zunächst unsystematisch, Nachlässe und Autographen erworben. Von Freiligrath sind inzwischen 460 Autographen im Haus. Besonders hervorzuheben ist das seit 1938 aufgebaute, umfassende Grabbe-Archiv. Zwischen 1971 und 1974 konnten mit dem Archiv der Familie Weerth auch Briefwechsel des in Detmold geborenen „ersten sozialistischen Dichters“ Georg Weerth für die Landesbibliothek gewonnen werden.
Das Lippische Literaturarchiv als eigenständige Einrichtung der Lippischen Landesbibliothek Detmold wurde 1979 durch Zusammenfassung der bereits vorhandenen Sammlungen begründet. Die Sammlungen werden seither laufend ergänzt und einheitlich erschlossen. Vorrangig widmet sich das Literaturarchiv den Dichtern Grabbe, Freiligrath und Weerth; es hat sich darüber hinaus als Sammelstätte literarischer und wissenschaftlicher Nachlässe aus der Region Ostwestfalen-Lippe profiliert.[2] Sie sind in den Räumen der Landesbibliothek für die Präsenznutzung allgemein zugänglich.
Das Lippische Literaturarchiv betreut zur Zeit 60 Nachlässe und Sammlungen zu Persönlichkeiten des 19. und 20. Jahrhunderts, die in Lippe geboren wurden oder hier gelebt und gearbeitet haben. Der Umfang der einzelnen Bestände reicht von wenigen Blättern bis zu vielen Hundert Archiveinheiten. Zu den Sammlungen gehören verschiedene Familien- und Vereinsarchive, dazu 32 Stammbücher und 502 Einzelautographen verschiedener Provenienz. Die Bestände werden aktiv eingeworben und dem Archiv in der Regel als Schenkung übereignet. Sie sind von recht unterschiedlicher Relevanz – nicht nur für Landeskunde und Regionalliteratur, sondern auch an ganz unvermuteter Stelle: der Nachlass des Orientreisenden und Diplomaten Georg Rosen aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts beispielsweise hat große Bedeutung als Quelle für die Kaukasiologie – einem in Lippe sonst wenig betriebenen Forschungszweig. Durch vielfältige Bezüge vernetzt, geben sich die Detmolder Nachlässe gegenseitig Aufschluss. Die Landesbibliothek präsentiert sie der Forschung auf einer Webseite mit ausführlichen Informationen zu Nachlasser und Nachlass sowie zugehörigem Findbuch, Personalbibliographie und Volltexten.[3] Sie macht Neuerwerbungen zeitnah auch in Heimatland Lippe und in der regionalen Presse publik – so beispielsweise 2007 den Nachlass der in diesem Jahr verstorbenen Detmolder Autorin Anne Schäfertöns, den eine Paderborner Studentin im Rahmen eines Praktikums erschlossen hatte. Der Beitrag in Heimatland Lippe und das sichtbare Bemühen der Bibliothek um aktive Vermittlung ihrer Nachlässe veranlasste den Salzufler Schriftsteller Kurt Müller, dem Lippischen Literaturarchiv seinen eigenen Nachlass bereits zu Lebzeiten zu überschreiben. Die Bibliothek nutzte dann ihrerseits die Gelegenheit, aus Anlass seines 75. Geburtstags im August 2008 einiges davon in einer Ausstellung zu präsentieren und den Geburtstag Müllers mit einer öffentlichen Lesung in ihren Räumen zu feiern.
Seit 1990 werden die Materialien des Lippischen Literaturarchivs in einer lokalen Datenbank katalogisiert. Der größte Teil der Nachlässe im Literaturarchiv ist in dieser Datenbank erschlossen. Da das System nicht webfähig ist, existiert zur Zeit leider kein überregionaler Nachweis. Die für die meisten Nachlässe als pdf-Dateien im Web veröffentlichten Findbücher schaffen allerdings – zumindest was die biographische Erforschung der Bestandsbildner anbetrifft – einen hinreichenden Ausgleich.
Ich möchte Ihnen nun drei Nachlässe vorstellen, die im Lippischen Literaturarchiv für die Forschung erschlossen und seitens der Landesbibliothek auch bekannt gemacht worden sind, allerdings bisher noch keinen interessierten wissenschaftlichen Bearbeiter gefunden haben. Ich habe verschieden umfangreiche Nachlässe sehr unterschiedlicher Persönlichkeiten ausgewählt, die miteinander nicht in Beziehung stehen, jeder für sich aber ausreichend Material für eine biographische Bearbeitung bieten. Diese Auswahl präsentiert natürlich nur einen Bruchteil des Vorhandenen.
Der „Humorist im Frack“: Otto Franz Krauß (Slg 38)
Beginnen möchte ich mit einem ehemals führenden Mitglied des Salzufler Ortsvereins des Lippischen Heimatbundes, an das sich manche von Ihnen vielleicht noch erinnern können: mit Otto Franz Krauß, geboren 1886 in Königsberg, gestorben 1978 in Bad Salzuflen. Krauß war von Beruf Vortragskünstler. Sich mit ihm und seinem Nachlass einmal näher zu beschäftigen, wäre nicht nur im Rahmen der weitgehend unerforschten Geschichte des Tingel-Tangels interessant, sondern auch im Vergleich zu seinem sieben Jahre älteren Kollegen Joseph Plaut aus Detmold, dessen Biographie Eugen Heinen 2004 vorgelegt hat.[4] Dass es sich lohnt, legen zeitgenössische Presseurteile nahe, die Krauß als „Großmeister des deutschen Humors“ und „Humoristen von Weltgeltung“ bezeichneten.
Otto Franz Krauß entstammte einer Königsberger Handwerkerfamilie und war das dritte von acht Kindern. Er arbeitete in jungen Jahren als Schnapsbrenner und Hotelportier, begann eine Lehre als Polsterer und Dekorateur, avancierte als Couplet-Sänger auf Jahrmärkten. Im Jahr 1907 finden wir ihn als singenden Blitzdichter in einer Schaubude auf dem Rummel des Berliner Wedding. Er fand eine Anstellung in einem Charlottenburger Dekorationsgeschäft, nahm Schauspiel- und Gesangsunterricht, reiste dann mit verschiedenen Ensembles durch deutsche Varietés, arbeitete auch als Vorhangzieher und Kulissenschieber. 1915 wurde er zum Kriegsdienst eingezogen, an der Ostfront verwundet und 1916 als Schwerkriegsbeschädigter entlassen. Es folgten Engagements an verschiedenen Theatern im Ruhrgebiet, auch Erfolge als Textdichter: für das Bochumer Stadttheater schrieb Krauß das Libretto zu der Operette „Der Nachtwandler“ und für das Metropol-Theater Gelsenkirchen das Singspiel „Das Lied der Loreley“, in dem er selbst mitwirkte. Ab 1923 tingelte er von Bad Lippspringe aus als Caféhaus-Sänger. 1925 fand er zu seiner eigentlichen Berufung als „Salonhumorist“ mit abendfüllendem Programm. Seither trat er in mehr als 2500 „Lachenden Krauß-Abenden“ auf, wo immer man ihn engagierte: vor allem in Heil- und Seebädern, aber auch in Stadthallen, Kulturvereinen, Volkshochschulen und im Rundfunk. Der erste dieser Abende fand übrigens im August 1925 in Bad Meinberg statt, wo Krauß danach noch 60 mal gastierte. Sich selbst pries er an als „Prof. Dr. humoris causa, Dozent für fröhliche Heilmittel gegen seelische und physische Zeitübel nach bewährten Rezepten von Busch, Budzinski, Kyber, Reuter, Rosegger, Thoma und Volkspräparaten.“ 1930 erwarb Krauß einen Kotten in Hollenhagen zwischen Bad Salzuflen und Exter. 1936 trat er in die NSDAP ein, um seinen Beruf weiter ausüben zu können – im selben Jahr flüchtete Joseph Plaut aus Detmold ins Exil nach Südafrika. Fortan wurde Krauß von der KdF vermittelt; im Zweiten Weltkrieg arbeitete er in der Wehrbetreuung mit. Das letzte Kriegshalbjahr tat Krauß noch Dienst bei der Luftwaffe, geriet dann in amerikanische Gefangenschaft. 1948 nahm er seine Vortragstätigkeit wieder auf. Seine Autobiographie mit dem Titel „Humor im Frack“ erschien 1969 im Verlag von Fritz Dröge in Schötmar.[5] Sie bietet einen guten Einstieg in die Beschäftigung mit dem Unterhaltungskünstler Krauß. Es war das Jahr, in dem er als 83-Jähriger auch seine Abschiedstournee unternahm.
Der Nachlass von Otto Franz Krauß gelangte bereits 1974 in die Landesbibliothek. Er umfasst 97 Nummern in vier Archivkästen und dokumentiert nicht das ganze Leben Krauß’, aber seine wichtigsten Aspekte.[6] Seine Auftritte seit 1918 sind in Referenzen der Veranstalter, Briefwechseln, Plakaten, Programmzetteln, Fotos und Klischees, in Kunstscheinen, Vergnügungssteuerbefreiungen sowie einer Vielzahl von Presseankündigungen und sorgsam gesammelten Besprechungen dokumentiert. Auch Würdigungen des Humoristen in Zeitungsartikeln und Vorträgen sind vorhanden, ebenso seine eigenen Beiträge für die regionale Presse aus fünf Jahrzehnten. Von seinen selbstverfassten Bühnentexten liegen Maschinenschriften und gedruckte Postkarten vor. Der Briefwechsel mit dem Schriftsteller Fritz Müller-Partenkirchen aus den Jahren 1937-1944 dokumentiert beispielhaft die Beziehung zu einem der Autoren, aus deren Werken Krauß vortrug. Die Briefwechsel mit dem Freund Rudolf Schaller, dem Musiker Alfred Pellegrini und dem Humoristen Rudolf Rollbühler aus den Nachkriegsjahren berichten von Krauß’ Arbeit und geben Aufschluss über sein künstlerisches Selbstverständnis. Nicht vorhanden sind Verträge, Terminkalender oder Abrechnungen, die in einem Nachlass wie diesem vermutet werden könnten. Auch seine Bibliothek ist, abgesehen von einigen Widmungsexemplaren, nicht überliefert.
Krauß trat stets im Frack auf. Die Uniform des Komödianten ist unabdingbar Teil seines Programms. Das gilt noch heute für die aktuelle Stand-up-Comedy-Szene. Und vielleicht ist es ja auch interessant, einen Mann wie Krauß, der sich als seriöser Sprechkünstler verstand, einmal vor dem Hintergrund heutiger Comedy-Shows zu betrachten. Vermittelt und angeschoben durch das Medium Fernsehen füllen Komiker heute riesige Hallen; die Vortragskunst im Live-Auftritt hat große Konjunktur. Man braucht nicht nur Krauß’ Zeitgenossen Karl Valentin und Heinz Erhardt in den Blick zu nehmen, wenn man dieses Phänomen nach seiner Vorgeschichte befragt.
Die „christliche Volksschriftstellerin“: Luise Küchler (Slg 10)
Als nächstes möchte ich Ihnen den Nachlass der Schriftstellerin Luise Küchler vorstellen. Er befindet sich seit 1982 im Lippischen Literaturarchiv, umfasst 648 Nummern in 28 Archivkästen und dokumentiert Leben und Werk der Autorin in großer Komplexität. Am 25. November 1980 hatte die Lippische Landesbibliothek eine Lesung mit Luise Küchler veranstaltet – im Rahmen von Bibliothekswochen, die unverhohlen auch dem Einwerben literarischer Nachlässe dienten, fand eine ganze Reihe von Autorenlesungen statt. Ernst Fleischhack hat dann anlässlich ihres 80. Geburtstags im Märzheft 1982 von Heimatland Lippe auf die Autorin aufmerksam gemacht,[7] und nach ihrem Tod im Mai gelangten die Materialien in die Landesbibliothek. Der leider viel zu früh verstorbene frühere Leiter des Lippischen Literaturarchivs Klaus Nellner hat sie erschlossen und 1985 in einer Ausstellung präsentiert – als „ein literatursoziologisch bemerkenswertes Zeugnis für das Leben einer Schriftstellerin, die nicht zu den erfolgreichen, den vielgelesenen und vielgenannten gehörte.“[8] Sie selbst betrachtete sich zeitlebens als Vertreterin der „gehobenen Unterhaltungsliteratur.“
Luise Küchler wurde 1902 als Lehrerstochter in Varel geboren, besuchte ohne Abschluss das Lyzeum und lernte dann im Haushalt. Von 1921 bis 1923 studierte sie am Konservatorium im thüringischen Sondershausen Klavier und gab dann bis 1930 in Zetel, wohin der Vater versetzt worden war, Klavierunterricht. Nach der Pensionierung des Vaters zog die Familie 1930 nach Detmold. Hier lebte Küchler, abgesehen von Berlin-Aufenthalten 1934/35, über fünfzig Jahre.
Bereits als Neunzehnjährige hatte Küchler kleine Geschichten zu schreiben begonnen, von denen verschiedene in Zeitungen abgedruckt wurden. 1932 veröffentlichte sie ihren ersten Roman „Wider Meer und Menschen“ in einer Familienzeitschrift, er erschien 1934 auch in Buchform. Die Schriftstellerei wurde fortan ihre Hauptbeschäftigung, es entstanden in rascher Folge immer neue Romane aus dem Genre des Heimatromans, die fast ausnahmslos in ihrer oldenburgischen Heimat angesiedelt sind. Nur „Liebe, Kies und Ackerduft“ (erschienen 1941) spielt in Lippe, nämlich in Heiligenkirchen. Ernst Fleischhack, der sich als einziger bislang näher mit Küchlers Romanen befasst hat, hat festgestellt, dass sie zwar stofflich der Blut-und-Boden-Literatur der dreißiger Jahre nahestanden, ideologisch aber doch Distanz hielten. Als Literaturhistoriker müsste man einmal prüfen, ob sie vielleicht in den sozialkritischen Dorfromanen des Naturalismus etwa eines Wilhelm von Polenz oder einer Clara Viebig ihre Vorbilder haben.
Die Distanz zur NS-Ideologie resultierte aus einer entschieden christlichen Einstellung Küchlers, die in ihrem Schaffen immer mehr in den Vordergrund trat. Ihre späteren Romanhelden beziehen ihre Kraft aus dem Bewusstsein christlicher Gnade und treiben die Handlung im Geist christlicher Vergebung und Versöhnung voran. Interessanterweise stehen nun meist weibliche Figuren im Mittelpunkt. Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte Küchler ihr schriftstellerisches Talent ganz in den Dienst der christlichen Verkündigung, wollte „Wegweiser zu Christus“ sein. Bis 1946 hatte sie als Stenotypistin in Bielefeld gearbeitet, nun glaubte sie, das Wagnis einer freien Schriftstellerexistenz eingehen zu können. Das ging gründlich schief. Ihre Romane, Erzählungen, Drehbücher und Theaterstücke fanden weder Verleger noch Interesse bei Film, Funk oder Bühne. Fromme Geschichten hatten keine Konjunktur, und überzeugt haben Küchlers naive volksmissionarische Botschaften nicht einmal die Lektoren christlicher Verlage. Sie publizierte gelegentlich kurze Erzählungen in Sonntagsblättern und erzielte bescheidene Einnahmen als Jugendschriftstellerin mit Heftromanen, Erzählungen in Jugendzeitschriften und Geschichten für Kindergottesdienstblätter. Sie war nicht belastbar und verbrachte ihr Leben in unablässiger Klage über Nichtbeachtung – konnte sich auch über die Anerkennung durch die Landesbibliothek 1980 nicht freuen, weil das Presseecho fehlte. Gleichwohl hielt sie unbeirrbar an ihrer Schreibart fest.
Küchlers Nachlass enthält ihre Veröffentlichungen und die dazu erschienenen Kritiken. Darüber hinaus bietet er ein beklemmendes Bild vom jahrzehntelangen Existenzkampf dieser produktiven, aber völlig unzeitgemäßen Schriftstellerin. Er umfasst die Typoskripte von rund sechzig unveröffentlichten Romanen und Erzählungen und von achtzehn ungedruckten Dramen. Genaueren Einblick in die Werkstatt der Autorin gibt der Roman „Arns Holland, der Fliegende Holländer“, ein Projekt, mit dem sich Küchler über vier Jahrzehnte beschäftigte und zu dem vier verschiedene Fassungen, dazu Notizen, Entwürfe und Materialsammlungen in großem Umfang existieren. Die zahlreichen Briefwechsel mit Verlagen, Redakteuren, Theatern, Rundfunkanstalten, Filmproduktionsgesellschaften, Verbänden und kirchlichen Institutionen belegen eindringlich Küchlers publizistischen Misserfolg. Ihre isolierte Stellung bezeugt die Tatsache, dass keine Korrespondenzen mit namhaften Vertretern des literarischen Lebens der Bundesrepublik zu finden sind, es bestanden nicht einmal Kontakte zu anderen Autoren der Region. Dafür hat sie selbst zahlreiche Aufzeichnungen über ihr entbehrungsreiches Leben hinterlassen und bewusst das von ihr zu zeichnende Bild als einer unverschuldet Missachteten gesteuert: umfangreiche Darstellungen ihrer finanziellen und materiellen Notlage, Aufzeichnungen über die Schwierigkeiten, Verlage für ihre Manuskripte zu finden, und eine vierzehn Blätter umfassende Autobiographie von 1980, in der sie resigniert schreibt, ihr unscheinbares Leben sei „ausgefüllt, doch nicht erfüllt“ gewesen – nach lebenslangem Kampf um literarische Wirkung stehe sie am Ende vor dem Nichts. Überliefert sind auch biographische Dokumente wie Arbeitskalender, Posteingangsbücher, Einnahmen- und Ausgabenbücher, Verlagsverträge, Anträge auf Arbeitslosenunterstützung und Stellengesuche, Verkaufsinserate von Hausrat, das Entlastungszeugnis der Entnazifizierungskammer von 1947, Mitgliedsausweise von Autorenverbänden etc. Die für einen Biographen dieser Autorin ertragsreichste Quelle dürften allerdings die Tagebücher aus den Jahren 1930/31 und 1933 sowie die fast elftausend maschinenschriftlichen Tagebuchseiten aus den Jahren 1945 bis 1979 sein – Ergebnis eines offenbar manischen Schreibzwangs und einschüchterndes Dokument eines Frauenlebens im 20. Jahrhundert, das sich fast vollständig rekonstruieren lässt und das in seiner Begrenztheit geradezu erschüttert.
Der „Bewährungsfall“: Martin Simon (Slg 43)
Statt des Tagebuchs ist es im Fall des Schriftstellers Martin Simon das erhaltene Briefkorpus, das eine Einschätzung seines – allerdings nur 33 Jahre währenden – Lebens ermöglicht.[9]
Martin Simon wurde 1909 als Sohn eines Kaufmanns in Wuppertal-Barmen geboren. Er studierte ab 1928 Germanistik in Köln und Berlin. Nach dem Konkurs des väterlichen Geschäfts infolge der Weltwirtschaftskrise musste er das Studium 1930 abbrechen. Er ließ sich dann an der Pädagogischen Akademie in Dortmund zum Volksschullehrer ausbilden. Als Vorsitzender des Allgemeinen Studentenausschusses bezog er Stellung gegen nationalsozialistische Übergriffe. „Weil keine Gewähr dafür gegeben ist, dass er sich als Jugenderzieher in nationalsozialistischem Sinne betätigen wird“, wurde er nach der Lehramtsprüfung im Februar 1933 nicht in den Schuldienst eingestellt. Erst vier Jahre später, nach dreimaliger Ablehnung, einem „Bewährungssemester“ an der Pädagogischen Hochschule Weilburg/Lahn und seinem Eintritt in die SA erhielt er schließlich eine Anstellung an der Volksschule im westfälischen Nettelstedt. Aber er stand weiter unter Beobachtung: kurz nach seiner Einstellung lud ihn die Gestapo zu einem Verhör. Er war wegen politischer Unzuverlässgkeit denunziert worden. Das Protokoll dieser Vernehmung ist erhalten.
Seitdem Simon 1931 ein Praktikum im Kinderheim Nettelstedt absolviert hatte, war er dem Kreis um den Nettelstedter Schulrektor Karl Meyer-Spelbrink eng verbunden. Dieser hatte in der Ortschaft am Nordhang des Wiehengebirges eine Freilichtbühne begründet. Seit 1923 führten die Einwohner des Ortes hier jährlich an den Sommerwochenenden mit großem Erfolg klassische und moderne Volksstücke auf. Simon lebte seit 1934 als freier Schriftsteller in Nettelstedt und war als Dramaturg führend an den Inszenierungen der Freilichtbühne beteiligt, schrieb auch selbst Theaterstücke. Bald war er unverzichtbar, weshalb auch örtliche Parteidienststellen seine schließlich doch noch erfolgende Einstellung in den Schuldienst beförderten.
Erste Gedichte und Erzählungen hatte Simon bereits als Student zu Anfang der dreißiger Jahre verfasst. 1935 trat er in die Reichsschrifttumskammer ein und konnte nun in regionalen und überregionalen Kulturzeitschriften publizieren; auch Gedichtbände und Theaterstücke wurden veröffentlicht. In Nettelstedt geriet Simon immer mehr in den Sog der „Blut und Boden“-Ideologie. Die Nettelstedter Laienbühne vollzog den Weg des Freilichttheaters zum „Bollwerk nordisch-deutscher Volkskunst“ mit. Simon schrieb ein Thingspiel, das als weltanschaulich besonders gut geeignet im Druck verbreitet wurde. 1939 spielten die Nettelstedter sein Volksspiel „Die Westfälinger“ über den bäuerlichen Widerstand im französischen Königreich Westfalen 1807-1813, für das er selbst eine dezidiert völkische Lesart bot.
Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs meldete Simon sich als Kriegsfreiwilliger; er nahm am Frankreichfeldzug teil, kämpfte an der Maginot-Linie und seit Juni 1941 mit der 6. Armee an der Ostfront. 1942 fiel er fünf Tage vor seinem 33. Geburtstag bei Rschew an der Wolga. Er hinterließ seine Witwe Emmy und drei Töchter.
Emmy Simon hat den Nachlass ihres Mannes sechzig Jahre lang gehütet, ihn durch Briefe, Dokumente und posthume Veröffentlichungen angereichert und 2002 der Lippischen Landesbibliothek übereignet. Er umfasst sieben Archivkästen.
Die Werkmanuskripte zu Gedichten, Erzählungen, Dramen und Aufsätzen sind vollständig erhalten. Manch Schwankhaftes ist dabei, auch Mundartliches, Balladen, Märchen und Anekdoten. Erzählungen behandeln die Sorgen und Probleme der westfälischen Bauern, Zigarrenarbeiter, Kriegsheimkehrer und ledigen Mütter in der Notzeit nach dem Ersten Weltkrieg. Anerkennung fand Simon vornehmlich als Lyriker. Es gibt sehr schöne Naturgedichte von ihm, aber auch einen Gedichtzyklus „Totenzwiesprache“ zum Trauma des Großen Krieges. Ab 1940 entstanden Gedichte und Erzählungen, die das Fronterlebnis spiegeln und auf die Frage nach dem Warum erschreckende Antworten finden.
Der Freund Hans Hartog, dessen 188 Stücke umfassender Briefwechsel mit Simon im Nachlass erhalten ist, schrieb ihm nach längerer Unterbrechung im Dezember 1940: „Ja, das Schweigen zwischen uns war so lang, dass es allmählich drückte. […] Es ist letztlich wohl die Angst, unsere alte Freundschaft würde die Belastungsprobe nicht aushalten, die sich aus meiner Entfremdung Deinen Arbeiten gegenüber ergibt.“[10] Simons sendungsbewusstes Bekenntnis zu Führer, Volk und Soldatentum seit etwa 1938, das angesichts seines Werdegangs nicht zu erwarten war, verstörte den Freund. Briefe aus dem ersten Kriegsjahr, in denen Simon die „Größe“ des Geschehens freudig begrüßt, seine Beteiligung daran als „beglückend“ apostrophiert und das gegenwärtige „Schicksal“ des deutschen Volkes sogar als eine „Gnade Gottes“ bezeichnet, belasteten das einstige Vertrauensverhältnis. In einem Aufsatz „Von deutschen Dingen“, der 1935 in der von Theodor Heuß herausgegebenen Zeitschrift Die Hilfe erschienen war, hatte Simon die religiöse Überhöhung des Völkischen noch als „dämonische Verwirrung“ verurteilt. Nun war er ihr selbst erlegen. Diesem Rätsel kann sich wohl nur eine genaue Analyse der Texte nähern. Unterstützend kann dazu der im Nachlass überlieferte Briefbestand herangezogen werden.
Die Briefe im Nachlass dokumentieren biographische Einzelheiten und Befindlichkeiten. Amtliche Schriftwechsel klären Simons politische Biographie. Verlagsbriefe informieren über die Umstände von Veröffentlichungen. Besonders aufschlussreich sind die Briefwechsel mit den Freunden Horst-Günther Schnell und Hans Hartog: Die Freunde teilen sich ihre Sorgen und Zweifel, aber auch ihre Einsichten und Hoffnungen mit; so offenbaren die Briefe auch ihre persönliche und geistige Entwicklung. In mancher Hinsicht sind sie ein beeindruckendes Zeugnis der „inneren Emigration“, in der die junge Generation Mitte der dreißiger Jahre ihre „innere Freiheit“ gegen die äußeren Zwänge verteidigte.
Die Bibliothek hat den Nachlass sogleich für eine wissenschaftliche Bearbeitung erschlossen. Sie hat ihn in der Region bekannt gemacht und den Hochschullehrern der Universitäten Bielefeld und Paderborn brieflich für eine germanistische Magister- oder Examensarbeit empfohlen. Leider ohne Erfolg, obwohl eine Bearbeitung zu Lebzeiten Emmy Simons noch enorm von der Erinnerung dieser bis ins höchste Alter geistig agilen Frau hätte profitieren können. Nach dem Tod Emmy Simons in diesem Jahr sind nun auch die 453 Briefe ins Literaturarchiv gekommen, die ihr Mann ihr zwischen 1931 und 1942 geschrieben hat. Sie sind noch nicht gesichtet worden. Wer das tun wollte, würde tiefen Einblick in ein Leben gewinnen, das für diese Generation sicherlich beispielhaft ist.
Anmerkungen
[1] Vgl. Detlev Hellfaier: Literaturarchive, literarische Nachlässe und Autographen – eine Landesbibliotheksaufgabe. In: Literaturarchive und Literaturmuseen der Zukunft : Bestandsaufnahme und Perspektiven. Rehburg-Loccum 1999 (Loccumer Protokolle 18/99), S.12-29. URL: https://www.llb-detmold.de/wir-ueber-uns/aus-unserer-arbeit/texte/1999-3.html.
[2] Vgl. Lippisches Literaturarchiv im Grabbe-Haus. Hrsg. von der Lippischen Landesbibliothek Detmold. Text: Brigitte Labs-Ehlert. Detmold 1990 (Nachrichten aus der Lippischen Landesbibliothek Detmold: 19);
Klaus Nellner: Das Lippische Literaturarchiv. Eine Bestandsübersicht. – In: Die Lippische Landesbibliothek. Bau, Sammlungen, Partner. Hrsg. von Detlev Hellfaier. Detmold 1993 (Nachrichten aus der Lippischen Landesbibliothek Detmold: 20), S. 67-79; URL: https://www.llb-detmold.de/wir-ueber-uns/aus-unserer-arbeit/texte/1993-1/1993-1-5.html;
Julia Hiller von Gaertringen: Das Lippische Literaturarchiv Detmold. In: Dichternachlässe. Hrsg. im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft der Regionalbibliotheken von Ludger Syré. Frankfurt a.M. 2009, S. 141-156. URL: https://www.llb-detmold.de/wir-ueber-uns/aus-unserer-arbeit/texte/2009-8.html.
[3] URL: https://www.llb-detmold.de/sammlungen/literaturarchiv/nachlaesse-und-autographen/nachlaesse.html.
[4] Eugen Heinen: Chottechott, was isser damit!? Zum Leben und Wirken des jüdischen Vortragskünstlers Joseph Plaut aus Lippe-Detmold (1879-1966), Detmold 2004.
[5] Otto Franz Krauß: Trotz allem zum Humor im Frack. Bad Salzuflen: Dröge, 1969. 2. Aufl. 1969, 3. Aufl 1975.
[6] Teile seines künstlerischen Nachlasses hat Krauß schon früher an das Westfälische Literaturarchiv in Hagen und an die Theaterwissenschaftliche Sammlung von Carl Niessen in Köln (15 Fotos) abgegeben.
[7] Ernst Fleischhack: Vom Unterhaltungsroman zur evangelischen Botschaft. Zum 80. Geburtstag der Detmolder Schriftstellerin Luise Küchler. In: Heimatland Lippe 75 (1982) H. 3, S. 81-83;
ders.: Luise Küchler. Literarisches Schaffen im Dienste christlicher Verkündigung. In: Lippische Rundschau vom 16.2.1982. – Vgl. auch Fleischhacks Nachruf in der Lippischen Landeszeitung vom 1.6.1982.
[8] Klaus Nellner: Der Nachlaß Luise Küchler. In: Heimatland Lippe 78 (1985) H. 6, S. 194 [192-194]. URL: https://www.llb-detmold.de/wir-ueber-uns/aus-unserer-arbeit/texte/1985-4.html. – Zur Ausstellung vgl. Lippische Landes-Zeitung Nr. 52 vom 1.3.1985.
[9] Vgl. Julia Hiller von Gaertringen: Zwischen Zeitferne und Weltnähe. Der Nachlass des Schriftstellers Martin Simon. In: Mindener Heimatblätter 75 (2003) Nr. 4 (= Beilage zum Mindener Tageblatt Nr.136 vom 14.06.2003, S. 26-27). – Auch in: Der Minden-Ravensberger 76 (2004), S. 55-62. – Auch in: Mitteilungen des Mindener Geschichtsvereins 75 (2003), S. 53-64. – URL: https://www.llb-detmold.de/wir-ueber-uns/aus-unserer-arbeit/texte/2003-1.html
[10] Hans Hartog an Martin Simon, 30.12.1940.