Aus der Frühzeit der regionalbibliographischen Theorie
Die Vorstellungen Adolf Keyssers von einer Rheinischen Bibliographie
von Detlev Hellfaier
Druckfassung in: Die Regionalbibliographie im digitalen Zeitalter : Deutschland und seine Nachbarländer / hrsg. von Ludger Syré und Heidrun Wiesenmüller. – Frankfurt am Main : Klostermann, 2006. – 426 S. – (Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie : Sonderheft ; 90). – ISBN 3-465-03461-9. – S. 15-31.
Einführung
Eine Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der Regionalbibliographie liegt bisher nicht vor. Die einschlägigen Handbücher der Bibliographie beschränken sich in der Regel auf definitorische, inhaltliche und formale Sachverhalte und vermeiden damit den Blick auf die Entstehung und die Entwicklungsstufen, die dieser Bibliographietyp durchlaufen hat. Grundsätzliche, wenn auch leider nur knappe Überlegungen zur Geschichte der Regionalbibliographie verdanken wir der verdienstvollen Arbeit von Oberschelp,[1] dessen Beobachtungen die nachstehenden Ausführungen verpflichtet sind. Danach ist der endgültige Durchbruch der Regionalbibliographie in Deutschland erwartungsgemäß eng mit dem Aufschwung der historischen Forschung im 19. Jahrhundert verbunden, in deren Gefolge sich die Landesgeschichte sukzessive als Teilsdisziplin der Geschichtswissenschaft etablieren konnte; letzteres erfolgte auf der Basis der bis ins 16. Jahrhundert und früher zurückreichenden territorialen, dynastisch orientierten Geschichtsschreibung, die im 17. und beginnenden 18. Jahrhundert ihre Blütezeit erlebte. Wie wir wissen, beförderte gerade die politische Situation in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das besondere Interesse an der eigenen Geschichte. Dieses neue kollektive Geschichtsbewusstsein fand seinen Niederschlag nicht nur in der Inangriffnahme großer nationaler Quelleneditionsprojekte wie „Monumenta Germaniae Historica“, „Chroniken der deutschen Städte“ u.ä., sondern führte in der Folgezeit zur Gründung zahlreicher regionaler Geschichtsvereine und historischer Gesellschaften, die sich namentlich der Landes- und Ortsgeschichte verschrieben und hier für eine wahre Flut monographischer, vor allem aber periodischer Publikationen sorgten. Es liegt auf der Hand, dass diese überproportional anwachsende und thematisch eindeutig einzugrenzende Literatur die Verzeichnung in einer eigenständigen Bibliographie geradezu herausforderte. Bis dahin sollte jedoch noch einige Zeit vergehen, denn die Landesgeschichte erlangte in Deutschland erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts allgemeine Anerkennung als Gegenstand ernsthafter und der historischen Methode verpflichteter wissenschaftlicher Forschung, und es sollte noch über zwei Jahrzehnte dauern, bis sie dank der unter professioneller Leitung stehenden Historischen Kommissionen und landesgeschichtlicher Institute allmählich den Stallgeruch der Provinzialität und Unseriosität ablegen konnte. Eine ähnliche, wenngleich jüngere Entwicklung hat die Landeskunde als Nachbarwissenschaft zur Landesgeschichte durchlaufen, die vereinzelt schon im späten 17., vorrangig aber um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert eine Verbindung der Geographie und der Statistik darstellte und sich in einer Serie statistisch-topographischer Landesbeschreibungen, die wohl kaum ein Territorium ausgenommen hat, manifestierte. Als geschichtliche Landeskunde gewinnt sie erst seit den 1920er Jahren an methodischer Eigenständigkeit und „versucht in geschichtlichen Querschnitten das Wechselspiel zwischen den natürlichen Gegebenheiten und der Tätigkeit des Menschen in der Landschaft aufzuzeigen“.[2] Bei aller eigenen Akzentuierung ergeben sich zwischen Landesgeschichte und Landeskunde z.T. erhebliche Schnittmengen; diese gelegentliche Konkurrenz musste sich zwangsläufig auch in der Entwicklung der Regionalbibliographie niederschlagen.
Die Notwendigkeit einer Regionalbibliographie hängt vom Vorhandensein einer eigens ausgeprägten Regionalliteratur ab. Die regionalgeschichtlich, anfangs vor allem dynastisch und genealogisch orientierte Literaturproduktion hatte vom 18. Jahrhundert an ganz offensichtlich so zugenommen, dass eine Zusammenstellung in einer eigens darauf ausgerichteten Bibliographie als sinnvoll und hilfreich angesehen wurde. Vor diesem Hintergrund überrascht nicht, dass vom frühen 18. Jahrhundert an in einzelnen deutschen Staaten erste tastende regionalbibliographische Versuche unternommen wurden,[3] die sich vor allem dann im Laufe des 19. Jahrhunderts unter den veränderten politischen und wissenschaftsgeschichtlichen Vorzeichen zunehmend vermehrten und verdichteten. R. Oberschelp hat für Niedersachsen unter Einschluss der Vorgängerstaaten die regionalbibliographische Entwicklung vom beginnenden 18. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert nachgezeichnet;[4] die hier gewonnenen Erkenntnisse dürfen als repräsentativ gelten. Danach hatten sich zwar im Laufe der Zeit einige Gepflogenheiten der Anlage landesgeschichtlicher und landeskundlicher Literaturverzeichnung herauskristallisiert, doch blieben konzeptionelle Überlegungen hinsichtlich sachlicher, räumlicher und zeitlicher Abgrenzungen, Form der Titelaufnahmen und deren Ordnung, Register, Annotationen und anderes mehr bis ins letzte Viertel des 19. Jahrhunderts ein Desiderat.
Einen ersten Schritt in Richtung theoretischer Durchdringung des Phänomens Regionalbibliographie bedeutete 1882 die Einsetzung einer „Centralkommission für wissenschaftliche Landeskunde von Deutschland“ durch den 2. Deutschen Geographentag in Halle/Saale. Nicht ohne Erfolg warb diese Kommission dafür, landeskundliche Bibliographien zu erstellen und zu publizieren. Um Vergleichbarkeit zu gewährleisten und die Benutzung zu erleichtern, wurde 1884 ein „Normalschema für die landeskundlichen Bibliographien“ entworfen und den Bearbeitern an die Hand gegeben.[5] Dieser „bedeutsame Impuls“ zeigte durchaus Wirkung und in der Folgezeit erschien eine ganze Anzahl landeskundlicher Bibliographien, die Wilhelm Erman 1885 einer kritischen Durchsicht unterzog. Er stellte erste ernstzunehmende Überlegungen zur Herstellung von „Bibliographien in provinziellen Grenzen“ an.[6] Die einseitig landeskundliche Ausrichtung des „Normalschemas“, die etwa die politische Geschichte ausschloss, wurde bisweilen stillschweigend erweitert oder modifiziert. Dennoch war man von einer flächendeckenden regionalbibliographischen Versorgung in Deutschland noch weit entfernt. Zu den Regionen, die in dieser Hinsicht unterversorgt waren, zählte am Ausgang des 19. Jahrhunderts auch das Rheinland. In den Grenzen der im Jahre 1822 geschaffenen preußischen Rheinprovinz hatte sich bisher keine regionalbibliographische Tradition entwickeln können. Die Ursachen hierfür sind vielschichtig, sie sind sicher in der territorialen Heterogenität und Größe dieser vom Niederrhein bis ins Saarland reichenden, künstlich geschaffenen Verwaltungseinheit zu suchen, die eine regionale Identität nicht hat aufkommen lassen. Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte jedoch auch hier die regionale Literaturproduktion dank zahlloser rühriger historischer Gesellschaften und landeskundlicher Vereinigungen in einem Maße zugenommen, das einerseits ihre planmäßige und annähernd vollständige Sammlung und andererseits nutzerfreundliche Verzeichnung dringend erforderlich machte.
Die Anfänge der Bemühungen um eine regionalbibliographische Berichterstattung im Rheinland ist mit dem Namen Adolf Keyssers, von 1880 bis 1915 Direktor der Stadtbibliothek Köln, verbunden. Dieser hatte im Jahre 1883 vorgeschlagen, in der Vereinszeitschrift des Historischen Vereins für den Niederrhein einen systematischen Katalog der in der Kölner Stadtbibliothek angelegten „Abteilung für Rheinische Literatur“ abzudrucken. Der Vorschlag wurde vom Vereinsvorstand dankbar aufgenommen und zu einem Plan für eine vollständige Bibliographie der Rheinprovinz erweitert, die unter dem Titel „Rheinische Bibliothek“ erscheinen sollte. Keysser äußerte sich hierzu in seiner beachtenswerten kleinen Schrift „Zur geschichtlichen und landeskundlichen Bibliographie der Rheinprovinz“, die 1891 als viertes Heft der „Veröffentlichungen der Stadtbibliothek Köln“ erschien und noch immer programmatischen Charakter besitzt. In ihr entwickelte der Kölner Stadtbibliothekar die Grundsätze einer Gesamtbibliographie der Rheinprovinz, die aufgrund ihres seinerzeit innovativen Ansatzes ebenso wie die 1907 in einer „Denkschrift“ niedergelegten Richtlinien „über das Sammeln von Drucksachen zur Geschichte und Landeskunde der Rheinprovinz“ noch in der Gegenwart Aufmerksamkeit verdienen. Bevor auf die bibliographietheoretischen Vorstellungen Keyssers näher eingegangen wird, sind zunächst einige Ausführungen zu seiner Person und zu seinem bibliothekarischen Wirken hilfreich.
Adolf Keysser: Bibliotheksmanagement für Stadt und Region
Mit Rudolf Jung, der sich jüngst in einem lesenswerten Beitrag mit dem Kölner Bibliothekar auseinandergesetzt hat, ist festzustellen, dass Adolf Keysser „zwar nicht ganz unbekannt [ist], aber zu den heute noch des öfteren genannten oder zitierten Bibliothekaren auch nicht [mehr] gehört.“[7] Damit teilt er das Schicksal einer ganzen Reihe von Berufskollegen und -kolleginnen, die noch vor einem guten Jahrzehnt aus dem bibliothekarischen Alltag nicht weg zu denken waren, über deren enorme Leistungen für das deutsche und internationale Bibliothekswesen heute aber unverdient hinweggegangen wird. Keysser steht diesen mit Sicherheit in nichts nach, und seine Verdienste für das rheinisch-westfälische Bibliothekswesen in einer Zeit des Umbruchs, in der Persönlichkeiten wie er die Weichen für die Entwicklung eines modernen Bibliothekswesens gestellt haben, sind beachtenswert; die zitierte Studie belegt diesen Sachverhalt ausdrücklich. Geboren wurde Adolf Keysser am 15. Mai 1850 im damals noch zu Kurhessen gehörenden Rinteln an der Weser, er besuchte dort das Gymnasium, wo Otto Hartwig (†1903), später in Halle einer der führenden deutschen Bibliothekare, kurzzeitig zu seinen Lehrern zählte.[8] Ursprünglich war er wohl für die militärische Laufbahn vorgesehen, schied aber nach Teilnahme am Deutsch-Französischen Krieg 1873 aus dem aktiven Dienst aus, wechselte als Diätar zum Oberpräsidium nach Straßburg und avancierte im folgenden Jahr zum Hilfsarbeiter an der dortigen Universitäts- und Landesbibliothek. Parallel dazu studierte er Rechts- und Staatswissenschaften und promovierte 1878 in Erlangen mit einer Arbeit zum römischen Privatrecht. Im gleichen Jahr trat er als Bibliothekssekretär in den Dienst der Stadtbibliothek Köln, die zwei Jahre später – also 1880 – aus der bisherigen Verbindung mit dem Stadtarchiv herausgelöst wurde und nun verselbständigt unter seine Leitung gelangte. 1887 wurde er offiziell zum Stadtbibliothekar ernannt, drei Jahre später zum Direktor, und 1903 würdigte man seine Verdienste mit der Verleihung des Professorentitels. Nach 37jähriger Dienstzeit in Köln schied er 1915 aus dem Berufsleben aus und verlebte den Ruhestand im Luftkurort Hiddesen bei Detmold an den Hängen des Teutoburger Waldes. Dort starb er nur wenige Tage nach seinem 82. Geburtstag am 5. Juni 1932.
Mit klaren konzeptionellen Vorstellungen, fachlicher Kompetenz und praktischem Geschick hat es Adolf Keysser verstanden, aus einer bis dahin als Annex zum Archiv zurückhaltend behandelten, finanziell wie personell dürftig ausgestatteten kommunalen Büchersammlung, der zudem noch elementare bibliothekarisch-bibliographische Hilfsmittel fehlten und es offenbar an jeder professionellen Struktur mangelte, ein anerkanntes und leistungsfähiges Bildungsinstitut zu schaffen. Die Stadtbibliothek Köln hatte schon um die Jahrhundertwende den Anschluss an vergleichbare Einrichtungen in Deutschland gewonnen und nicht zuletzt dank der Weitsicht ihres leitenden Bibliothekars auf einzelnen Gebieten sogar innovatives Neuland beschritten. Keyssers bibliothekarisches Lebenswerk ist jüngst kompetent und mit der dankenswerten Ausführlichkeit gewürdigt worden, so dass an dieser Stelle einige wenige Hinweise genügen.
Sogleich nach Amtsübernahme stellte er eine klare Zielplanung („Denkschrift“) auf, die stets fortgeschrieben wurde. Zeitgemäße Bibliotheksorganisation, Etatfragen und vor allem die Katalogisierung des durch zahlreiche Schenkungen und Übernahme ganzer Bibliotheken rasch anwachsenden Bestandes machten hier wie andernorts das Tagesgeschäft aus. Ausgesprochen modern lesen sich seine 1888 niedergelegten Grundsätze zum Bestandsaufbau, aus denen sich ein eigenes Erwerbungsprofil abzeichnet und das die bibliothekarische Kooperation vor Ort einbezog. Auch zu dem seinerzeit kontrovers diskutierten verbindlichen Regelwerk für die Titelaufnahme äußerte er sich detailliert und kenntnisreich, plädierte für den modernen Zettelkatalog in normiertem internationalen Format, der auch den Benutzern zugänglich sein sollte, und erkannte früh den Rationalisierungseffekt, den der Katalogkartendruck nach dem Vorbild des Britischen Museums für die Buchbearbeitung bedeutete. In der Sacherschließung bewegte sich Keysser hingegen in eher herkömmlichen Bahnen, indem er den systematischen Standortkatalog („Fachkatalog“) zum Hauptsachkatalog ausbaute, hier aber die Form des Bandkataloges beibehielt. Das starke Anwachsen des Bestandes (1878: 35.000 Bände; 1915: rd. 250.000 Bände) machte zwischen 1891 und 1894 die Erweiterung und Neueinteilung der Hauptsachgruppen und arbeitsintensive Umsystematisierung erforderlich, bot zugleich aber eine Angleichung an das veränderte Wissenschaftsverständnis und – durchaus nicht bibliothekarisches Allgemeingut – mnemotechnische Elemente im Notationssystem. Eine erhebliche Änderung erfuhr bei dieser Gelegenheit die Literatur der Rheinlande, die als eigene Hauptgruppe mit der Grundnotation Rh „Geschichte und Landeskunde der Rheinprovinz“ zusammengeführt wurde; darauf wird noch zurückzukommen sein.
Bleibt noch zu erwähnen, dass der rührige Kölner Bibliothekar sich über die Arbeit der eigenen Bibliothek hinaus mit sicherem Gespür für aktuelle Themen einer ganzen Reihe spezieller Fragen gewidmet hat. Dazu gehört beispielsweise die Bedeutung der Belletristik für die öffentlichen (wissenschaftlichen) Bibliotheken als Quellenmaterial und Bildungsmittel, und seine 1905 erschienene Publikation „Das Bibliothekswesen als Gegenstand der öffentlichen Verwaltung“, als „Quintessenz seines bibliothekarischen Wirkens“ qualifiziert,[9] erregte einiges Aufsehen. Kaum vorstellbar, dass seine subtilen Gedanken und scharfsinnigen Folgerungen heute bei kommunalen Entscheidungsträgern irgendein Verständnis für Bibliotheken oder bibliothekarische Arbeit erregen würden! Öffentlichkeitsarbeit, Personalfragen, hier u.a. Tätigkeitsmerkmale im Hinblick auf sich abzeichnende Laufbahnen, und bibliothekarische Ausbildung beschäftigten ihn ebenso wie die für ihn unverzichtbare bibliothekarische Kooperation. Aus der sicheren Erkenntnis heraus, dass Bibliotheken dringend der Lobbyarbeit bedürfen, gründete er 1906 den Verband Rheinischer Bibliotheken (1928 zum Verband Rheinisch-Westfälischer Bibliotheken erweitert), der alle Bibliothekssparten einschloss und dem er bis 1909 vorstand. Darüber hinaus engagierte er sich im Verein Deutscher Bibliothekare. Seiner ebenso ehrgeizigen wie weitsichtigen Initiative, einen „Führer durch die deutschen Bibliotheken“ ins Leben zu rufen, der Auskunft über Forschungsliteratur, Sonderbestände, Nachlässe u. ä. geben sollte, ins Leben zu rufen, war kein Erfolg beschieden. Und es überrascht wohl kaum, dass sein Name in der umfangreichen Diskussion, die dem „Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland“ vorausgegangen ist, nicht die gebührende Würdigung findet.
Rheinische Bibliographie: Theorie, Praxis, Wirkung
Als einer der ersten deutschen Bibliothekare hat sich Adolf Keysser der „Landesliteratur“ zugewandt, deren Sammeln und Erschließen als Kernaufgabe der „Territorial-Bibliotheken“, worunter er die (wissenschaftlichen) Stadtbibliotheken und die Landesbibliotheken verstand, gefordert und hier vor allem das Augenmerk auf die graue und ephemere Literatur gerichtet. Nach dem Gesagten ist einsichtig, dass er der Bibliothek der „Metropole des Rheinlandes“ in diesem Kontext die zentrale Stellung für die Rheinprovinz zugewiesen hat. Schon in seiner programmatischen Denkschrift von 1881 ist die Rede von regionalem (Klein-)Schrifttum, dessen Bedeutung sich u.a. darin manifestiert, dass im neuen Sachkatalog dafür eine eigene Hauptgruppe gebildet wurde. Auch im Erwerbungsprofil von 1888 sollten die „rheinisch-westfälische Literatur“ und „die in Köln und nächster Umgebung entstandenen Schriften“ eine wichtige Rolle einnehmen. Keyssers eigentümliches Interesse an der Landesliteratur mag bereits während seiner ersten Jahre an der Universitäts- und Landesbibliothek Straßburg geweckt worden sein, die ihn vielleicht doch mehr als bisher angenommen geprägt haben, geweckt worden sein. Er hatte die dortige Alsatica-Abteilung kennen gelernt, deren Grundstock an Druck- und Handschriften, Stichen, Karten und anderen Materialien wenige Jahre vor seinem Berufseinstieg in einem Katalog publiziert worden war.[10] Die Systematik der Elsass-Lothringischen Abteilung in der Straßburger Bibliothek diente ihm als Muster für die Hauptgruppe M „Rheinland und Westfalen“ (nach Umarbeitung ab 1891: Rh Geschichte und Landeskunde der Rheinprovinz) und fand auch Anwendung im 1894 bis 1907 gedruckten Bibliothekskatalog dieser Abteilung.[11]
Die Erschließung der Literatur der Rheinlande durch eine eigens erstellte Systematik war in der Stadtbibliothek Köln zwingend notwendig geworden, da nicht allein die Bibliothek des Polyhistors Ferdinand Franz Wallraf (1748-1824), die dieser schon 1818 der Stadt vermacht hatte,[12] über eine Vielzahl von Rhenensien verfügte, sondern auch in der Folgezeit eine Reihe von Privat- und Vereinsbibliotheken mit einem hohen Anteil an landeskundlicher Literatur in die Stadtbibliothek gelangt war.[13] Unter den Vereinsbibliotheken dürfte diejenige des Historischen Vereins für den Niederrhein, die 1880 als Depositum in die Bibliothek gekommen war, eine besondere Bereicherung bedeutet haben. Denn gleichsam im Gegenzug, so darf man vermuten, offerierte Keysser 1883 dem Vereinsvorstand, in den Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein „einen systematischen Katalog der bei der Kölner Stadtbibliothek angelegten Abtheilung für Rheinische Literatur zum Abdruck zu bringen.“ Es muss offen bleiben, wie man sich diesen Abdruck vorzustellen hat. Den Vorstand hat Keysser jedenfalls mit dieser Idee nicht überzeugen können, denn der plädierte für die Erstellung einer vollständigen Bibliographie der Rheinprovinz und lieferte den Titel „Rheinische Bibliothek“ gleich mit. An die praktische Umsetzung dieses Vorschlags war zu jener Zeit jedoch nicht zu denken, denn der Umfang der Arbeit, insbesondere die „Herbeischaffung des Materials“, die Beschaffung der erforderlichen Geldmittel, die vorrangige Einarbeitung übernommener Büchersammlungen und die damit verbundene Auslastung des vorhandenen Personals und letztendlich das mangelnde Interesse offizieller Stellen ließen das so wünschenswerte Vorhaben über die nächsten Jahre ruhen.
Erst der Beginn der Umarbeitung der ursprünglichen Hauptgruppe M (Rheinland und Westfalen) in die Hauptgruppe Rh (Geschichte und Landeskunde der Rheinprovinz) im Jahre 1891 bewog den Kölner Bibliotheksdirektor, sich erneut mit einer rheinischen Bibliographie zu befassen. In der bereits oben zitierten Schrift „Zur geschichtlichen und landeskundlichen Bibliographie der Rheinprovinz“[14] legte er umfassende theoretische Überlegungen über eine Regionalbibliographie vor, wie sie bis dahin in ihrer richtungsweisenden Programmatik noch nicht geäußert worden waren. So bedarf es keiner Begründung, seine instruktiven Ausführungen in der angemessenen Gründlichkeit in Erinnerung zu rufen, wobei der Autor nach Möglichkeit selbst zu Wort kommen soll.[15]
Keysser sah in den bisher in Sammelwerken, in Zeitschriften oder auch separat veröffentlichten bibliographischen Arbeiten zur rheinischen Geschichte und Landeskunde Vorarbeiten zu jedem größeren Unternehmen, worunter er eine rheinische Gesamtbibliographie verstanden wissen wollte. Seiner Studie schickte er daher eine Übersicht von 49 Titeln voraus, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhob, aber dennoch die erste rheinische Bestandsaufnahme dieser Art ausmacht (S. 8-22). Dass es sich hierbei um inzwischen historisch gewordene Titel handelte, war für seine Grundsatzüberlegungen unerheblich. Es verwundert nicht, dass die Kölner Stadtbibliothek mit ihren reichen Schätzen an rheinischer Literatur den Ausgangspunkt für die Verzeichnung des Materials bilden sollte; und der seit kurzem auch den Benutzern zur Verfügung gestellte handschriftliche Zettelkatalog der Bibliothek sollte als „umfangreiche Vorarbeit für eine zukünftige Bibliographie der Rheinprovinz direkt verwertet werden können.“
In der Studie wurden „Grundsätze“ entwickelt, nach denen die Auswahl des Materials und die Verarbeitung desselben zu erfolgen hat. „Bei der Auswahl sind sowohl die äußerlichen Eigenschaften wie der Inhalt der aufzunehmenden Stücke zu prüfen,“ hieß es einleitend in einem zweiten Abschnitt „Begrenzung der Aufgabe.“ Unterschieden wurde die „Auswahl der Werke nach der Herstellungstechnik und der Art des Erscheinens“ und die „Auswahl der Werke nach ihrem Inhalt.“ Zur Aufnahme in eine Gesamtbibliographie der Rheinprovinz eigneten sich nach Keysser in erster Linie Druckwerke jeden Umfanges, in zweiter Linie Aufsätze aus Zeitschriften und Sammelwerken sowie gedruckte oder durch mechanische Vervielfältigung hergestellte Karten, Pläne und Abbildungen. Eine Aufnahme handschriftlicher Codices war nicht vorgesehen, da sie über die Zwecke der Bibliographie im engeren Sinne hinausgegangen wäre. Aus gleichem Grunde sollte auch auf die Aufnahme von kartographischen Darstellungen des Rheinlandes und seiner Landesteile aus älterer und jüngerer Zeit verzichtet werden. Dagegen könnte, so Keysser weiter, eine „Zusammenstellung“ (sc. Bibliographie), die die periodische Literatur oder die zur „Ergänzung der gedruckten Literatur unentbehrlichen bildlichen Darstellungen“ nicht verzeichnet, keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Bezüglich des Charakters der bildlichen Darstellungen verzichtete er allerdings auf weitere Angaben. Man wird wohl Bildmaterial jeder Herstellungstechnik darunter zu verstehen haben, gleich, ob es sich um Stiche oder fotografische Aufnahmen handelt.
Die Frage nach der Auswahl der Werke für eine Bibliographie ist für den Kölner Bibliothekar identisch mit der Frage nach dem wissenschaftlichen Wert des aufzunehmenden Materials, einer Frage, die er dahingehend beantwortet, dass sich ein solches Problem für einen Bibliographen gar nicht stellte: „Es handelt sich eben nicht nur um historische Darstellungen, sondern der großen Masse nach um solche Schriften, welche ohne Aufwand von Gelehrsamkeit hergestellt sind, zunächst praktischen Zwecken und den verschiedenartigsten Interessen des täglichen Lebens dienen und erst durch die Zusammenstellung mit möglichst vollständigem Material für eine künftige Geschichtsschreibung ihre Bedeutung und damit in gewissem Sinne auch einen wissenschaftlichen Wert gewinnen. Ein großer Teil aller Flugschriften, der Erzeugnisse der Tagespresse sowie der Gelegenheitsschriften und Privatdrucke, insbesondere Programme, Statuten, Jahresberichte und dergleichen von Behörden, Anstalten, Gesellschaften und Vereinen ist hierher zu rechnen, und es ist ebenso bedenklich, die Ansammlung solcher meist umfangreichen und anscheinend wertlosen Stücke in den öffentlichen Bibliotheken zu verabsäumen, wie ihre Aufnahme in eine provinzielle Bibliographie von der Hand zu weisen ist“ (S. 25f.). Diese bemerkenswerte Einsicht datiert immerhin aus dem Jahre 1891. Und folgerichtig fährt er daher mit dem Postulat fort, dass alle Stücke aufzunehmen seien, welche die Geschichte und Landeskunde der Rheinprovinz betreffen, beziehungsweise für geschichtliche oder landeskundliche Darstellungen von besonderem Werte seien. „Wenn man die Aufgabe einer Rheinischen Bibliographie in dieser Weise feststellt, so wird damit über diejenigen Grenzen weit hinausgegangen, in denen die meisten der im letzten Jahrzehnt in Deutschland erschienenen landeskundlichen Bibliographien sich bewegen.“ Dem zukünftigen Bearbeiter einer rheinischen Bibliographie wird jedoch empfohlen zu prüfen, inwieweit solche als Vorbilder dienen können.
Von zentraler Bedeutung ist für Keysser die Frage nach der Region, deren Literatur verzeichnet werden soll. Diese Frage sei aber nicht von vornherein und endgültig, sondern nur mit einem gewissen Vorbehalt zu beantworten. Die darüber angestellten eingehenden Überlegungen sind es wert, in einem ausführlichen Zitat vorgestellt zu werden, zumal sie die Herangehensweise ihres Urhebers signifikant beleuchten:
„Nehmen wir die heutige Rheinprovinz als Grundlage für die Begrenzung der Aufgabe, so gilt sie selbstredend nicht für alle Zweige der rheinischen Literatur. Wenn auch die heutigen Provinzialgrenzen für die politische und Verwaltungsgeschichte von Beginn der preußischen Zeit Anwendung finden, so ändert sich dies schon, sobald wir in die Geschichte der nächst voraufgegangenen Perioden zurückgreifen. Es ist ganz selbstverständlich, daß jedes der Territorien, welche die heutige Rheinprovinz bilden, möglichst im Gesamtumfange seiner geschichtlichen Entwicklung in Betracht zu ziehen ist; es gilt das in gleichem Maße für die weltlichen und geistlichen Territorien, für die kirchliche und Profangeschichte. Die Bibliographie ist eben eine Hilfswissenschaft auch der Geschichte, eine rheinische Bibliographie ein unentbehrliches Hilfsmittel provinzial- und lokalgeschichtlicher Forschung, der sie im Ausblick auf das gleiche Ziel vorauf zu gehen und die Wege zu ebnen hat. Gehen wir von der Kirchen- und Profangeschichte auf andere Literaturzweige über, so ergeben sich fast bei jedem einzelnen andere Grenzen, welche mit denjenigen der heutigen Rheinprovinz nicht zusammenfallen. (…) Die geologische Literatur, die mineralogische, die klimatologische, sie gehören ohne Frage in den Bereich unserer Bibliographie, sie können aber ihrem Wesen nach eine Einzwängung in die politischen Grenzen nicht ertragen, da sie es mit der Betrachtung rein natürlicher Verhältnisse zu tun haben. Ähnlich ist es u. a. mit der Geschichte des rheinischen Weinbaues, der nicht allein mit den klimatischen, sondern ebenso sehr mit den allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnissen, ganz besonders aber mit dem Stande des Handels und des Verkehrswesens innig zusammenhängt. Ein sehr hervorragender Zweig des letzteren, die Rheinschiffahrt, kann eigentlich nur unter Berücksichtigung des ganzen schiffbaren Stromlaufes Gegenstand bibliographischer Bearbeitung werden; ob für einzelne auf das Stromgebiet bezügliche, aber nicht ausschließlich die Schiffahrtsverhältnisse berührende Verwaltungsmaßnahmen – Uferbauten und dergleichen – eine Teilung etwa nach Strombauverwaltungsbezirken eintreten kann, steht dahin und wird erst, sobald das literarische Material vorliegt, nach der Beschaffenheit und dem Umfange desselben zu entscheiden sein. Auch auf dem Gebiete der Kunstgeschichte kann es bedenklich erscheinen, das Material etwa in topographischer Anordnung bis an die Provinzialgrenzen zusammenzustellen, ohne in einzelnen Fällen den Zusammenhängen mit der Kunst benachbarter Gebiete nachzugehen. Übrigens sind dies Fragen, welche sich auch nicht durch wissenschaftliche Rücksichten allein erledigen lassen, sondern ebenso wohl von einer Auseinandersetzung mit bibliographischen Unternehmungen der Nachbarländer abhängig gemacht werden können. Auch findet sich häufig in der Literatur eine gemeinsame Behandlung benachbarter Gebiete, ein Umstand, welcher sowohl für die Auswahl wie für die Gruppierung des Materials zu betrachten ist“ (S. 34-36).
Keysser macht auf die mühevolle Beschaffung der in Betracht kommenden Privatdrucke aufmerksam, von denen die Bibliotheken nur gelegentlich Kenntnis erhalten, und bedauert, dass auch das Pflichtexemplarrecht diesen Mangel nicht vollständig beseitigen kann, eine Feststellung, die auch heute noch ihre Gültigkeit hat. Am Schluss des ersten Abschnittes über die „Begrenzung der Aufgabe“ wird noch einmal nachdrücklich auf die reichhaltigen Bestände der Rheinischen Abteilung der von ihm geleiteten Bibliothek verwiesen. Die sorgfältigen bibliographischen Aufnahmen des Kölner Zettelkataloges könnten als Druckmanuskript unmittelbar verwendet werden.
Im zweiten Abschnitt seiner Studie entwickelt Keysser seine Vorstellungen von der „Ausführung der Arbeiten“ und stellt die bemerkenswerte Forderung auf, dass die rheinische Bibliographie in „absehbarer Zeit mit möglichst geringem Aufwand an Zeit und Geldmitteln hergestellt werden“ solle. Über die Größe des Personenkreises, der die Bibliographie erarbeiten soll, werden keine genauen Angaben gemacht, es wird wenig konkret von einem Bibliographen, von einer einheitlichen Leitung, von einem Hauptredakteur des ganzen Unternehmens, von einem Bearbeiter und auch von Mitarbeitern gesprochen. Die rheinische Bibliographie soll ein möglichst vollständiger, zuverlässiger und praktisch brauchbarer Führer durch das gesamte Gebiet der rheinischen Literatur sein. Dabei ist unverhandelbar, dass sie nach wissenschaftlichen Grundsätzen angelegt wird. Wenn Keysser auch vermeidet, ein festes Arbeitsprogramm aufzustellen, so werden zumindest die wesentlichen Arbeitsschritte benannt. Es handelt sich dabei um: 1. die Beschaffung vollständigen Materials, 2. die „kunstgerechte“ – wohl im Sinne von „regelkonforme“ – Herstellung bibliographischer Einzelaufnahmen, 3. die systematische Ordnung des Ganzen, 4. die Herstellung der notwendigen Register und 5. die Drucklegung.
Was den ganz entscheidenden ersten Schritt, nämlich die Beschaffung des Materials angeht, so verraten seine detaillierten Vorschläge den gestandenen Praktiker, der bisweilen dazu neigt, sich in Einzelheiten verlieren. Es soll zunächst von den größeren Buchhandelsverzeichnissen ausgegangen werden, aus denen die infrage kommenden Titelaufnahmen auszuschneiden sind, um dann zu einem vorläufigen Verzeichnis zusammengeführt zu werden. Offenbar um Dubletten zu vermeiden, müsse parallel dazu „ein alphabetisches Repertorium der bereits verzeichneten Werke (…) als wesentliches Hilfsmittel stets zur Hand sein und beständig auf dem laufenden erhalten werden.“ Daraufhin sind vor allem die bedeutenderen Bibliotheken der Rheinprovinz nach Rhenensien zu durchforschen, und zwar kommen dafür nach seiner Ansicht in Betracht die Universitätsbibliothek Bonn, die Kreisbibliothek ebenda, die Landesbibliothek Düsseldorf, die (wissenschaftlichen) Stadtbibliotheken Aachen, Köln, Trier und Koblenz, dazu noch die Gymnasialbibliothek in Koblenz, die größeren Vereinsbibliotheken, ferner für einzelne speziellere Gebiete eine Reihe von Fachbibliotheken, so etwa für ältere Kirchengeschichte und praktische Theologie die Bibliothek des Priesterseminars in Köln, für Karten, Pläne und Abbildungen die Plankammern der Historischen Museen und andere. Sogar eine Reihe privater Bibliotheken in Köln soll miteinbezogen werden. Keysser ist Realist genug, wenn er empfiehlt, dass sich die Literaturermittlung zunächst auf das deutschsprachige und das in Deutschland erschienene Schrifttum richten möge, während den fremdsprachigen Titeln „nötigenfalls“ in den größeren Bibliotheken des Auslands nachgespürt werden müsse.
Bei der Durchsicht der Kataloge bzw. Bücherbestände soll möglichst in einem Arbeitsgang das ganze aufnahmewürdige Material für eine rheinische Bibliographie herangezogen werden, auch dann, wenn etwa aus besonderen Gründen einzelne Teile, wie Karten und Pläne etc., eine gesonderte Bearbeitung erfordern würden. Lediglich die periodischen Schriften, die ohnehin in den Bibliotheken vielfach gesondert verzeichnet und aufgestellt werden, könnten, um den Abschluss des ganzen Unternehmens nicht aufzuhalten, einer späteren Durchsicht vorbehalten bleiben. Diese Anregung unterstreicht einmal mehr seinen pragmatisch-praktischen Sinn.
Die bibliographische Verzeichnung hat grundsätzlich auf der Grundlage der Autopsie zu erfolgen. Nur wenn ein wichtiges Werk als tatsächlich erschienen ermittelt wird, der Besitznachweis aber nicht erbracht werden kann, werde man eine Ausnahme zulassen, die aber stets als solche zu kennzeichnen sei. Dringend wird angeraten, die bibliographische Verzeichnung zweckmäßigerweise an die Katalogisierungspraxis einer der größeren rheinischen Bibliotheken anzulehnen. Und wenn in dieser Beziehung die „Vorschriften für die Titelaufnahme“ der Stadtbibliothek Köln „in erster Reihe empfohlen werden, dann geschehe das nur deshalb, weil sie sehr ausführlich sind und weil sie bei der bibliographischen Verzeichnung der sehr ansehnlichen Rheinischen Abteilung dieser Bibliothek ihre Brauchbarkeit bewiesen haben“ (S. 45). Schon damals und noch bis in die Gegenwart umstritten ist Keyssers Anliegen, der Bibliographie auch ihre „praktische Verwendbarkeit als Katalog“ zu sichern, indem jedem einzelnen Titel die ermittelten Besitznachweise beigegeben werden sollten. Hingegen hielt er eine kritische Wertung einzelner Werke im Zuge der bibliographischen Bearbeitung für „im allgemeinen überflüssig“, plädierte allerdings für die Beigabe von Annotationen, die den Inhalt knapp umreißen, in den Fällen, in denen weder der Titel des Werkes noch die ihm im System zugewiesene Stelle etwas über den Inhalt erkennen lasse.
Bedauerlicherweise weicht Keysser einer klaren Empfehlung zur systematischen Ordnung einer rheinischen Bibliographie aus, da „ein endgültig festzustellendes System sich vor allem dem Umfang und der Beschaffenheit des fertig vorliegenden Materials anzupassen“ habe. Hoher Stellenwert wird allerdings den sorgfältig ausgearbeiteten Registern als Sacherschließungsmittel beigemessen. Die knappe Behandlung dieser unstreitig zentralen Frage nach der Ordnung der Titel überrascht, denn im Zusammenhang mit seinen Überlegungen bezüglich der „Auswahl der Werke nach ihrem Inhalt“ wird das 1884 von der „Centralkommission für wissenschaftliche Landeskunde von Deutschland“ aufgestellte und für landeskundliche Bibliographien empfohlene „Normalschema“ abgedruckt und mit einigen kritischen Anmerkungen versehen. Mit anderen bedauert der Autor hier vor allem die einseitige landeskundliche Ausrichtung des Schemas, die die Brauchbarkeit für andere Lebensbereiche und Wissensgebiete einschränkt oder sogar verhindert; besonders das Fehlen der allgemeinen Landesgeschichte, Recht, Verwaltung usw. disqualifiziert das Schema für eine umfassende Bibliographie der Rheinprovinz. Keysser konzediert immerhin, dass es dafür auch nicht konzipiert worden sei.
Richtungsweisend ist die Tatsache, dass er bei der Erörterung der vorzüglichen Sammlung rheinischer Literatur in der Stadtbibliothek Köln die Systematik der dortigen Hauptgruppe Rh mit 20 Untergruppen abdruckt. Auch wenn im Anschluss daran bescheiden angemerkt wird, dass mit „der Veröffentlichung dieser Übersicht der systematischen Anordnung einer Rheinischen Bibliographie nicht vorgegriffen werden“ soll, so weist die im gleichen Atemzug getroffene Feststellung, dass die Kölner Regionalsystematik „für eine vorläufige Sichtung des Materials ausreichend sein dürfte“, eindeutig darauf hin, welche Ordnung hier favorisiert wird. Die Gründe für die eher zurückhaltenden Äußerungen in der Frage der anzuwendenden Systematik bleiben unverständlich, denn dass die sachliche Ordnung der Hauptgruppe Rh durchaus auch für die Anlage einer rheinischen Bibliographie geeignet gewesen wäre, besteht auch aus heutiger Sicht nur wenig Zweifel. Keysser selbst hat wenige Jahre später unter Beweis gestellt, denn die beiden gedruckten Kataloge dieser Abteilung folgen der zwischenzeitlich überarbeiteten Regionalsystematik der Stadtbibliothek Köln und haben sich als regionalbibliographisches Arbeitsmittel durchaus bewährt. Dennoch ist zu bedauern, dass sich der ausgewiesene Kenner regionalbibliographischer Theorie nicht stärker mit der Systematik für Regionalbibliographien auseinandergesetzt hat. Unabhängig davon, dass es in den folgenden Jahrzehnten an praktikablen und guten Lösungen für die systematische Anlage von Regionalbibliotheken nicht gefehlt hat, sollten genau 100 Jahre vergehen, bis unter völlig anderen bibliothekspolitischen und informationstechnischen Rahmenbedingungen ein allgemeinverbindliches Modell einer solchen Systematik entworfen und publiziert worden ist.[16]
Über die Drucklegung wird zum Schluss der Studie knapp vermerkt, dass man „sich den besten bisher erschienenen Mustern, in Schrift und Format den Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein, in denen die Bibliographie veröffentlicht werden soll“, wird anzuschließen haben. Mithin ging Keysser noch immer davon aus, dass eine retrospektive rheinische Bibliographie als Jahrgang oder vielleicht Sonderband des Vereinsorgans erscheinen könnte.
Ungewiss bleibt, wie die Bestandsaufnahme und die theoretischen Vorüberlegungen zum Projekt einer geschichtlichen und landeskundlichen Bibliographie der Rheinprovinz bei den Adressaten im Rheinland angekommen sind. Nimmt man die ausführliche Rezension des Berufskollegen Walther Schultze von der Preußischen Staatsbibliothek zum Maßstab,[17] so dürften Keyssers „klare und sachgemäße“ Ausführungen zumindest in den bibliothekarischen Fachkreisen interessiert und wohlwollend aufgenommen worden sein. Grundsätzlich stimmt der Rezensent über weite Strecken mit ihm überein, jedoch nicht ohne die eine oder andere abweichende Gewichtung. Wenn er dem Grundsatz, dass von einer Prüfung des aufzunehmenden Materials nach seinem wissenschaftlichen Wert abgesehen werden soll, nicht beipflichtet, sondern eine „gewisse Grenze“ doch gezogen sehen möchte, so berührt er damit einen alten Streit unter Bibliographen, der bis in unsere Tage andauert. Ein Ende zeichnet sich nicht ab, und die meisten Regionalbibliographien gehen dem Problem dadurch aus dem Weg, dass eine Themenbegrenzung nach der Erscheinungsform die „Titelflut“ von vornherein eindämmt.[18] Man wird dem Praktiker aus Köln auch hier zu Gute halten müssen, dass er den Arbeitsaufwand für eine Bewertung von vornherein vermeiden oder zumindest gering halten wollte. Schultze übt Kritik an der engen fachlichen Ausrichtung der von der „Centralkommission“ angeregten, das geographische Element überbetonenden landeskundlichen Bibliographien, äußert aber zugleich die berechtigte Sorge, dass die Aufnahmekriterien für die rheinische Bibliographie zu weit gesteckt sein könnten. Vor allem wird seiner Ansicht nach nicht klar genug zwischen in der Region erschienener und über die Region erschienener Literatur, also objektiver und subjektiver Literaturverzeichnung, unterschieden. Der Einwand ist durchaus zulässig, denn Keyssers Aussagen sind in dieser Hinsicht zweideutig, wenngleich aus allem Gesagten zu erschließen ist, dass er, von den im Rheinland gedruckten Inkunabeln abgesehen, nur die Literatur über die Rheinprovinz vor Augen gehabt hat. Für den Berliner Fachkollegen, der seinerseits bedauert, dass sich Keysser nicht über die Anordnung des Stoffes geäußert hat, ist das entscheidende Ordnungskriterium das geographische Element und nicht das Wissenschaftsfach, denn „es kommt vor allem darauf an, daß alles, was ein bestimmtes Gebiet, einen bestimmten Ort betrifft, beisammen steht.“ Abschließend wird anerkannt, dass Keyssers Schrift in erster Linie eine methodologische Bedeutung zukommt, „indem sie darauf hinweist, über wie vieles man sich erst klar sein muß, bevor man mit der praktischen Ausführung einer Provinzialbibliographie beginnen kann.“ Dieser Einschätzung ist nichts hinzuzufügen.
Wir wissen heute, dass eine geschichtliche und landeskundliche Bibliographie der Rheinprovinz nie erschienen ist. Schon drei Jahre nach der Veröffentlichung seiner Studie musste Keysser lakonisch feststellen, dass die „Herstellung einer Rheinischen Gesamtbibliographie wohl leider für lange Zeit zu den frommen Wünschen zu zählen sein“ wird. Um so mehr musste ihn mit Stolz und Genugtuung erfüllen, dass die reichhaltigen Bestände der Rheinischen Abteilung der Stadtbibliothek Köln von 1894 an, seiner ursprünglichen Intention entsprechend, in einem gedruckten Katalog der Öffentlichkeit vorgelegt werden konnten.[19] Wenn auch das unselbständige Schrifttum über das Rheinland darin keine Aufnahme findet und man sich auf die Bestände der eigenen Bibliothek beschränken musste, „ohne die Eigenschaft einer vollständigen Rheinischen Bibliographie in Anspruch zu nehmen,“ so geht die Arbeit „grundsätzlich über das Programm hinaus, welches die meisten der im letzten Jahrzehnt in Deutschland erschienenen sog. landeskundlichen Bibliographien aufgestellt haben,“ ist zeitgleich aus seiner Feder zu lesen.[20]
Die Landesliteratur sollte ihn auch in späteren Berufsjahren nicht loslassen. Im Auftrag des Verbandes Rheinischer Bibliotheken erarbeitete er 1907 eine vielbeachtete Denkschrift über „Die Rheinische Landesliteratur“ und referierte 1908 auf dem 9. Deutschen Bibliothekartag in Eisenach über die gleiche Thematik.[21] Dabei ging es ihm vor allem darum, den Wert der Landesliteratur für die Forschung aufzuzeigen und in diesem Zusammenhang das Kleinschrifttum, die sogenannte graue Literatur, bibliothekswürdig zu machen sowie die Sammeltätigkeit der Bibliotheken bezüglich dieser Literatur zu organisieren. Die Ergebnisse seiner Bemühungen um das Sammeln und Erschließen der rheinischen Landesliteratur wurden in 12 Thesen zusammengefasst, über die im Verband Einigkeit erzielt werden konnte; sie sahen eine arbeitsteilige Vorgehensweise, lokale Gesamtkataloge und die Stadtbibliothek Köln „in Ermangelung einer eigentlichen Landesbibliothek für die Provinz als Hauptsammelstelle für die Rheinische Literatur“ vor. Da diese so modern und effizient angelegte bibliothekarische Zusammenarbeit, aus der sich die kooperative Erstellung einer Regionalbibliographie gegenwärtigen Zuschnitts mit Zentralredaktion und dezentralen Erfassungs- und Sammlungsstellen für die Rheinprovinz hätte entwickeln können, nur auf freiwilliger Basis erfolgen sollte und in keiner Weise institutionalisiert war, hatte das zukunftsweisende Projekt von vornherein keine Chance der praktischen Umsetzung.
Wenn auch Adolf Keysser nicht dazu gekommen ist, seine Vorstellungen von einer rheinischen Bibliographie in die Praxis umzusetzen, so bleibt doch das, was er im Jahre 1891 niedergelegt hat, deshalb bemerkenswert, weil es um formale und inhaltliche Kriterien ging, um die Abgrenzung der Bezugsregion, um eine Zusammenarbeit mit bibliographischen Anrainern, um mögliche Vorbilder, um die Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Kleinschrifttum und Privatdrucken, um das Pflichtexemplarrecht, um die Form der Titelaufnahme, um die Durchforschung rheinischer Bibliotheken nach Rhenensien und um einiges mehr – alles Fragen, die Keysser schon damals als wesentlich erkannt hat. Gewiss, viele der von ihm aufgezeigten Probleme sind zwischenzeitlich gelöst, und über manches mag man im Zeitalter der Virtuellen Deutschen Landesbibliographie verwundert den Kopf schütteln, doch haben seine Ausführungen über weite Strecken an Aktualität erstaunlich wenig eingebüßt, so dass ihre Lektüre allemal anregend sein kann. Im Rheinland haben sie offenbar nicht die verdiente Wirkung gehabt. Hiesige spätere regionalbibliographische Unternehmungen, initiiert namentlich von Max Bär, Archivdirektor aus Koblenz, im Jahre 1915 und von Hermann Corsten, Direktor der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln und damit einer von Keyssers Nachfolgern, beginnend in den 1930er Jahren, haben sich nicht oder zumindest nicht erkennbar an Keyssers Überlegungen orientiert und sind nach verheißungsvollem Start stecken geblieben.[22] Erst die Nordrhein-Westfälische Bibliographie vom Jahre 1982 an und die Rheinland-Pfälzische Bibliographie mit dem Berichtsbeginn 1991 decken heute die wesentlichen Teile der ehemaligen Rheinprovinz regionalbibliographisch ab,[23] aber noch immer steht der retrospektive Lückenschluss für die ehemals rheinischen Landesteile der beiden genannten Bundesländer aus.
Anmerkungen
[1] R. Oberschelp, Die Bibliographien zur deutschen Landesgeschichte und Landeskunde (Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie, Sonderhefte, 67), 3. Aufl. Frankfurt/Main 1997, S. 13
[2] Ebenda, S. 14.
[3] Vgl. J. Petzholdt, Bibliotheca bibliographica, Leipzig 1866, S. 816ff.
[4] R. Oberschelp, Zweieinhalb Jahrhunderte niedersächsische Bibliographie, in: Die Niedersächsische Landesbibliothek Hannover, Entwicklung u. Aufgaben, hrsg. von W. Totok u. K.-H. Weimann, Frankfurt/M. 1976, S. 155-170.
[5] Das „Normalschema“ ist abgedruckt in: Mittheilungen der Kaiserlich-Königlichen Geographischen Gesellschaft in Wien 27, 1884, S. 558f., und in: Das Ausland 57, 1884, S. 721.
[6] W. Erman, Über die von der Centralkommission für wissenschaftliche Landeskunde von Deutschland unternommenen bibliographischen Arbeiten, in: Verhandlungen der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 12, 1885, S. 96-113 (auch als Separatdruck erschienen).
[7] R. Jung, Adolf Keysser, Direktor der Stadtbibliothek Köln 1880 bis 1915. Eine Annäherung über seine Publikationen, in: De officio bibliothecarii. Beiträge zur Bibliothekspraxis. Hans Limburg zum 65. Geburtstag gewidmet, hrsg. von G. Gabel (u.a.), Köln 1998, S. 232-260, hier S. 232.
[8] Zur Biographie Adolf Keyssers vgl. vor allem die warmherzige Skizze von C. Nörrenberg, Adolf Keysser. Ein Nachruf, Leipzig 1933, daraus auch das hier beigegebene Porträt Keyssers aus dem Jahre 1922 (erweiterter Sonderabdruck aus Zentralblatt für Bibliothekswesen 50, 1933, S. 322-325), ferner Jung, Adolf Keysser (wie Anm. 7), S. 232-234. Die wesentlichen Personal- und Amtsdaten verzeichnen auch das Lexikon deutscher wissenschaftlicher Bibliothekare 1925-1980, bearb. von A. Habermann (u.a.) (Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie, Sonderhefte, 42), Frankfurt/Main 1985, S. 156-158; W. Brüske, Adolf Keysser, in: Lexikon des gesamten Buchwesens, hrsg. von S. Corsten, Bd. 4, 2. Aufl. Stuttgart 1995, S. 205f.
[9] Jung, Adolf Keysser (wie Anm. 7), S. 253.
[10] Bibliothèque alsatique. Catalogue des livres, manuscrits, dessins, gravures, cartes, autographes etc., de feu F. C. Heitz. Avec notice préliminaire par R. Reuss, Strasbourg 1868.
[11] A. Keysser, Einleitung, in: Katalog der Stadtbibliothek in Köln, Abt. Rh. Geschichte und Landeskunde der Rheinprovinz, Bd. 1, bearb. von F. Ritter (Veröffentlichungen der Stadtbibliothek in Köln, 5/6), Köln 1894, S. XXI.
[12] Zur Bibliothek Wallraf vgl. P. B. Rupp, Die Bibliothek Ferdinand Franz Wallraffs (1748-1824). Entstehung u. Fortbestand. Ass.-Arbeit. Köln 1976 (masch.), auch in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 47 (1976), S. 47-114.
[13] Einen knappen Überblick über die rheinischen Bestände bietet W. Schmitz, Köln, Universitäts- und Stadtbibliothek, Rheinische Abteilung, in: Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland, Bd. 4, hrsg. von S. Corsten, Hildesheim 1993, S. 51f.
[14] Einzelnachweise erfolgen nur bei umfangreicheren Zitaten durch in Klammern gesetzte Seitenzahlen im Text.
[15] Vgl. zum Folgenden auch D. Hellfaier, Bestandsaufnahme und Vorüberlegungen zu einer rheinischen Bibliographie. Ass.-Arbeit. Köln 1979.
[16] Modell einer Systematik für Regionalbibliographien, in: Regionalbibliographien in der Bundesrepublik Deutschland (dbi-Materialien, 112), Berlin 1991, S. 81-87.
[17] W. Schultze, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen 9, 1892, S. 29-31.
[18] Oberschelp, Bibliographien (wie Anm. 1), S. 25-27.
[19] Katalog der Stadtbibliothek in Köln, Abteilung Rh. Geschichte und Landeskunde der Rheinprovinz, Bd. 1-2, bearb. von F. Ritter u. J. Gotzen (Veröffentlichungen der Stadtbibliothek in Köln, 5-8), Köln 1894-1907. Das vorangehende Zitat von A. Keysser im Vorwort zu Bd. 1, S. XXIV. – Der systematisch angelegte Katalog enthält rd. 4.600 Titel und verzeichnet Literatur zu allen Wissensgebieten, das angekündigte Gesamtregister ist nicht erschienen.
[20] A. Keysser, Die Bibliothek der Stadt Köln, in: Das Archiv und die Bibliothek der Stadt Köln. Festschrift zur 23. Jahresversammlung des Hansischen Geschichtsvereins Pfingsten 1894 und der am 16. Mai vollzogenen Grundsteinlegung des neuen Archiv- und Bibliotheksgebäudes, Köln 1894, S. 21-31, hier S. 28f.
[21] Ders., Die Rheinische Landesliteratur. Denkschrift über das Sammeln von Drucksachen zur Geschichte und Landeskunde der Rheinprovinz, Cöln 1907; ders., Die Landesliteratur und die öffentlichen Bibliotheken mit besonderer Beziehung auf die Rheinprovinz, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen 25, 1908, S. 348-355; vgl. dazu besonders Jung, Adolf Keysser (wie Anm. 7), S. 251-253.
[22] Vgl. D. Hellfaier, Bibliographien zur Geschichte und Landeskunde der Rheinlande. Ein annotiertes Verzeichnis (Kölner Arbeiten zur Bibliotheks- und Dokumentationswesen, 1), Köln 1981, S. 5-8.
[23] Vgl. die entsprechenden Beiträge zu den genannten Regionalbibliographien in diesem Sammelband.