Palais der Bücher. Die Lippische Landesbibliothek
von Karl Alexander Hellfaier
Druckfassung in: Westfalenspiegel 20 (1971), 11, S. 13-15.
Als durch Gesetz über die Vereinigung des Landes Lippe mit dem Land Nordrhein-Westfalen vom 5. November 1948 das Land Lippe als letzter deutscher Kleinstaat seine Selbständigkeit aufgab, ging die in ihren Anfängen bis in das Jahr 1614 zurückreichende Landesbibliothek Detmold auf den durch Gesetz vom gleichen Tag errichteten „Landesverband Lippe“ über. Die Lippische Landesbibliothek ist seitdem eine Landesbibliothek ohne Land, obwohl sie, historisch gesehen, als landesherrliche Gründung den Typ einer Landesbibliothek am reinsten verkörpert. Detmold ist die einzige Stadt in Nordrhein-Westfalen, die bis 1918 fürstliche Residenz war.
Die Lippische Landesbibliothek ist weit über 300 Jahre älter als der Landesverband, dessen Fürsorge und Förderung sie in den letzten zwei Jahrzehnten einen bemerkenswerten Aufschwung verdankt. Doch der Zuschuß, der sich 1951 noch auf 95.000 Mark belief, mußte für 1971 bereits auf 455.000 Mark veranschlagt werden, ein Umstand, der zu der Frage Veranlassung gab, ob es denn Aufgabe des Landesverbandes Lippe sei, eine Bibliothek, die „nicht allein der Literaturversorgung der lippischen Bevölkerung dient“, in einem solchen Maße zu fördern.
In der Tat: die Lippische Landesbibliothek ist eine wissenschaftliche Universalbibliothek. Sie dient der Lehre und der Forschung in ähnlicher Weise wie die Universitätsbibliotheken, sie steht aber auch allen denen zur Verfügung, die sich geistig und beruflich weiterbilden wollen. Sie entlastet durch den Konnex im Auswärtigen Leihverkehr die großen Hochschulbibliotheken und ist auch im Internationalen Leihverkehr ein bemerkenswerter Faktor, der ihre weltweite Wirkung deutlich macht, obwohl sie ihrem landschaftlichen Wirkungsbereich mit einer besonderen Intensität verbunden bleibt. Die Behauptung aber, das wissenschaftliche Gewicht, das sie verkörpere, stünde in keinem rechten Verhältnis zum echten Bedürfnis von Land und Leuten ihrer Region, deren Namen sie trägt, hat den vornehmsten Sinn und Wert einer Bibliothek, ihren ideellen und sozialen Auftrag, nicht verstanden, der sich nur aus den Bedürfnissen ihrer Benutzer schlüssig beantworten läßt; ohne sie wäre wissenschaftliche Arbeit weithin nicht möglich.
Mit ihren 250.000 Bänden und 976 laufenden Zeitschriften ist sie nach den Universitätsbibliotheken Münster und Bochum und der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund in Westfalen die viertgrößte Bibliothek, in Ostwestfalen-Lippe die bedeutendste Büchersammlung und das angesehenste Bildungsinstitut überhaupt.
Für die in Detmold domizilierten Hand- und Behördenbibliotheken ist sie das bibliographische Zentrum. Sie besitzt den Status einer Ausbildungsbibliothek für den gehobenen Dienst an wissenschaftlichen Bibliotheken, ist für eine Reihe von Bibliotheken und Büchereien ihrer Region die vom Kultusminister bestimmte Leitbibliothek und seit dem 1. Januar 1969 die Abgabebibliothek für Amtsdrucksachen im Regierungsbezirk Detmold. Im Rahmen der Sondersammelgebiete der Bibliotheken in Nordrhein-Westfalen schenkt sie der Vorgeschichte, Volks- und Völkerkunde ihre besondere Aufmerksamkeit. In ihrer Eigenschaft als Landesbibliothek aber sammelt und archiviert sie das gesamte Schrifttum ihrer Region, für die sie repräsentativ dasteht. Alles, was einmal Bedeutung gewinnen kann, wird gesammelt, weil es erschienen ist. Diese Tätigkeit auf ihrem ureigensten Gebiet wird ihr aber durch das Fehlen eines PfIichtexemplargesetzes sehr erschwert.
Das nach seinem Gründer benannte „Grabbe-Archiv Alfred Bergmann“ ist die bedeutendste Sondersammlung der Detmolder Bibliothek, deren prominentester und eifrigster Benutzer bis zur Stunde Christian Dietrich Grabbe war. Diese großartige Sammlung besteht aus Autographen, Druckwerken und Handzeichnungen, graphischen Blättern und Plastiken. Vorhanden sind die Originalmanuskripte der meisten Werke des Dichters, Entwürfe und Bruchstücke, rund 300 Briefe von eigener Hand und anderer Provenienzen, Bühnenbearbeitungen und Regiebücher, Programmhefte, Theaterzettel, Bühnenbildentwürfe, Figurinen, Szenenfotos, Rezensionen und Modellbühnen. Unter den Druckschriften befinden sich sämtliche Gesamt- und Einzelausgaben von Grabbes Werken, die von ihm benutzte Literatur und das Schrifttum über Leben und Werk des Dichters. Der Buchbestand der Sammlung mit äußerst seltenen Zeitschriften umfaßt das zeitgenössische Schrifttum, deutsche und Teile der französischen und englischen Literatur, von der ausgehenden Aufklärung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, zumeist Erstausgaben in Originaleinbänden. Seit dem Ausscheiden Alfred Bergmanns aus dem aktiven Dienst im Jahre 1952 ist diese kostbare Sammlung, die unter seiner Leitung als die zentrale Stätte für die Grabbe-Forschung galt, verwaist. Die Etatisierung einer Stelle für diese wissenschaftlich relevante Sammlung ließ sich noch nicht verwirklichen.
Die Musikabteilung mit dem Lortzing-Archiv baut auf den ehemals fürstlichen Beständen auf, dem Notenmaterial des Hoftheaters und der Hofkapelle und der Musikabteilung des früheren Lippischen Lehrerseminars. Die Sammlung enthält alle musikalischen Sparten, Orchestermusik, Gesang und Kammermusik und bietet mit über 200 Erstdrucken einen repräsentativen Querschnitt durch die Musikliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts. Darstellungen und Untersuchungen zur Musikgeschichte und Musiktheorie bilden die wissenschaftliche Substanz dieser Sammlung, die weit über Lippe hinaus in der Fachwelt Rang und Namen hat.
Der Musikabteilung inkorporiert ist das Lortzing-Archiv, dessen Kernbestand auf fürstlichen Besitz zurückgeht; auf ihm fußen die späteren Bestände, die vorwiegend Material zur Spieloper des 19. Jahrhunderts, eine umfangreiche Libretti-Sammlung und die gesamte einschlägige Lortzing-Literatur enthalten. Mit dem Ankauf des persönlichen Nachlasses des Komponisten, der in den Jahren von 1826 bis 1833 mit seiner Frau am Detmolder Theater als Schauspieler und Sänger wirkte, erreichte das Archiv eine beachtliche Geschlossenheit. Es enthält neben einer umfangreichen Autographensammlung Textentwürfe, fertige Kompositionen und handschriftliche Kompositionsentwürfe sowie vielschichtiges und reichhaltiges Material über die Opernaufführungen des Komponisten.
Wie Albert Lortzing ist auch Ernst von Bandel kein lippischer Landsmann, doch als Erbauer des Hermanns-Denkmals der lippischen Landschaft sehr verbunden. Darin liegt die Genesis der Bandel-Sammlung begründet, die die umfangreiche Korrespondenz wegen seines Denkmalbaues, der sich fast über vier Jahrzehnte hinzog, enthält sowie private Korrespondenzen, über 160 Tusch- und Bleistiftzeichnungen, Bandel-Bildnisse und Ansichten von Denkmalsmodellen.
Den Grundstock zur Freiligrath-Sammlung legte der Dichter selbst, als er 1862 der Bibliothek acht Gedichtmanuskripte schenkte, die heute außer verschiedenen Erst- und Werkausgaben die Schul- und Lehrbücher des jungen Freiligrath, Bleistiftzeichnungen, mehrere Stammbücher und einen umfangreichen Briefwechsel enthält.
Zu den Kostbarkeiten ihrer Handschriftensammlung zählt die Detmolder Bibliothek eine lateinische Bibel aus dem Kloster Berich in Waldeck, die um 1250-1270 datiert wird, „Der Naturen Bloeme“ des Jakob von Maerlant, eines Schülers von Albertus Magnus, ein didaktisches Gedicht mit etwa 1660 gereimten Versen in alt- flämischer Sprache mit über 1000 Initialen und Illuminationen (um 1287-1290), die 1445 entstandene Handschrift einer Evangelienharmonie „EvangeIium exquatuor unum compilatum …“, das Reisetagebuch des Lemgoer Forschungsreisenden Engelbert Kaempfer (1651-1716) mit z. T. heute nicht mehr bekannten asiatischen Idiomen und schließlich eine der Wissenschaft bis vor kurzem unbekannte Abschrift des Sachsenspiegels aus dem Jahre 1408, um nur einige Stücke zu nennen.
Eine graphische Sammlung mit rund 1.000 Blättern umfaßt Holzschnitte, Kupferstiche, Lithographien deutscher Meister des 16. bis 20. Jahrhunderts, Engländer, Franzosen, Holländer, Italiener und Japaner. Eine weitere Sammlung von Zeichnungen lippischer Baudenkmäler, Landschaften und Porträts lippischer Persönlichkeiten, eine optische Ergänzung des landeskundlichen Schrifttums, besteht aus rund 700 Einzelblättern: getuschte und aquarellierte Bleistift- und Federzeichnungen, Kupferstiche, Aquarelle, Lithographien und zahlreiche Skizzenbücher.
Mit Hilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft ist eine Sozial- und Zeitgeschichtliche Sammlung von überregionaler Bedeutung im Aufbau begriffen.
Wenn auch die Bestandsvermehrung die wichtigste und schwierigste und darum die zentrale Aufgabe des Bibliothekars ist, so erfüllt sich doch der Zweck einer modernen Bibliothek in ihrer Benutzung. Die Zusammensetzung der Leserschaft zeigt, daß die Detmolder Bibliothek in der Tat der sozialen Wirklichkeit ihrer Landschaft gerecht wird und alle Bildungsschichten zu ihren Benutzern zählt. Im Zuge der Verwissenschaftlichung unserer Gesellschaft meldet die im Aufbau befindliche Fachhochschule Lippe ihre begründeten Anliegen bei der Bibliothek an, die nicht nur hierfür einer materiellen und personellen Ausstattung bedarf, auf die auch im Zeitalter der Elektronengehirne nicht verzichtet werden kann.