Die Landesbibliothek
von Hans Kiewning
In: Die Lippische Landesverwaltung in der Nachkriegszeit. Mit Beiträgen zur Finanzgeschichte, Abhandlungen über die einzelnen Zweige der Hoheits- und der Betriebsverwaltungen, wirtschaftlichen Berichten, steuerpolitischen Zahlen und sonstigem statistischen Beiwerk. Hrsg. von Heinrich Drake. Detmold, Meyer, 1932, S. 203-206.
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Graf Simon VI. zur Lippe (gest. 1613) besaß in seinem Schlosse Brake eine für seine Zeit nicht unbedeutende Bibliothek, die Werke aus den verschiedensten Wissenschaften enthielt. Ihr theologischer Teil stammte von dem 1599 verstorbenen Generalsuperintendenten Mag. Johann von Exter, dem Verfasser der lippischen Kirchenordnung von 1571. Diesen Büchervorrat stiftete sein Sohn und Nachvolger in der Regierung Graf Simon VII. im Jahre 1614 als Grundstock einer „Gräflich öffentlichen Bibliothek“, wie sie bezeichnet wurde, und ließ sie, nachdem das säkularisierte Augustinernonnenkloster in der Schülerstraße zu Detmold zu einer Provinzialschule umgewandelt war, dort in einem dazu eingerichteten Saale aufstellen.
Da die Bibliothek von Anfang an durch Personalunion mit dem Archiv verbunden war, teilte sie auch zwei Jahrhunderte hindurch das Schicksal dieser Behörde. Caspar Pezel, ihr erster Bibliothekar, hat sich manche Mühe um sie gegeben und auch, wie er einmal schreibt, ein Bücherverzeichnis angefertigt, es ist aber nicht mehr aufzufinden. Sein nicht unbedeutender Nachlaß an Büchern kam durch eine merkwürdige Fügung an die Bibliothek, da er ohne Hinterlassung eines Testaments starb und die Regierung Bedenken hatte, die sich meldenden Erben anzuerkennen. Viel kam während des Dreißigjährigen Krieges fort, namentlich in den vormundschaftlichen Streitigkeiten. Da auch keine Mittel zu Neuanschaffungen vorhanden waren, veraltete und verwahrloste der Bücherbestand genau wie das Archiv. Vom Jahr 1707 liegt noch ein Katalog vor, so ungeschickt wie möglich eingerichtet, ohne Unterabteilungen, nur nach den Formaten. Graf Simon August versuchte allerhand Mittel aufzutreiben, um die Benutzung wieder zu beleben, meist Strafgelder, aber es ging über seine Kräfte, einen gelernten Bibliothekar anzustellen. Sein Archivrat Knoch übernahm bei seiner Berufung die Verwaltung genau wie seine Vorgänger, gab sie dann aber doch, da ihm Bibliothekssachen gänzlich fern lagen, wohl 1771 an den Rektor der Provinzialschule Wellner ab, der sie einige Jahre versah, bis er 1778 als Pastor nach Meinberg kam. Seitdem kümmerten die Prorektoren sich etwas um die Bücher, scheinen auch einen Katalog angefertigt zu haben.
Aber der Zustand war doch bedauerlich. Endlich entschloß sich im Jahre 1818 die Landesregentin Fürstin Pauline zu einer radikalen Neugestaltung. Man plante, die Bibliothek aus dem Schulhof nach dem Schloßplatz in einen Pavillon des Reithauses oberhalb des Stalles für fremde Pferde zu überführen. Clostermeier, Knochs Schwiegersohn und Nachfolger im Archiv, warnte, da das neue Lokal unbedingt zu klein wäre. Es bestand nur aus einem mäßigen Zimmer für den Direktor und einem schmalen Saal durch den ganzen Pavillon, in dem man in der Mitte, da er nur zweifenstrig auf beiden Seiten war, nur ein einziges Doppelrepositorium aufstellen konnte. Dennoch wählte man diese Räume. Im April 1822 erfolgte die Überführung. Nach dem Katalog, den der Direktor Prof. Möbius mitgab, waren es etwa 4.000 Nummern, dazu noch einige Manuskripte und Inkunabeln. Eine zweite Büchersammlung stand auf dem Schloß und enthielt Sammlungen der Grafen Friedrich Adolph, Simon Henrich und Simon August etwa vom Ende des 17. Jahrhunderts bis zu des letztern Tode 1782 mit einem Katalog von 1783. Es gab ferner eine Handbibliothek des verstorbenen Fürsten Leopold I. und seines Bruders Prinz Casimir August. Auch gab es eine Regierungsbibliothek, die Clostermeier seit seinem Dienstantritt im Jahre 1786 besorgt hatte. Alle diese Bestände wurden jetzt in der öffentlichen Bibliothek vereinigt, alles in allem mögen es etwa 7.000-8.000 Nummern gewesen sein.
Man bat 1821 Clostermeier die Neugestaltung zu übernehmen. Trotz seinem Interesse tat er es widerwillig. Er war fast 71 Jahre alt, auf einem Auge erblindet infolge des Aufenthalts in dem feuchten Archivgebäude und stark gichtisch. Nur für zwei Jahre wollte er sich verpflichten, verbat sich jeden Formelkram, jede überflüssige Schreiberei, verlangte volle Selbständigkeit. Er selbst nannte das Jahr 1821 das Geburtsjahr der „Landesbibliothek“. Man mußte sich schnell entschließen, was man eigentlich wollte. Eine Bibliothek, die alle wissenschaftlichen Fächer umfaßte, war zu teuer, auch von Beginn an beengt durch das unzureichende Lokal. Man ließ diesen Gedanken fallen. Clostermeier empfahl eine Geschäftsbibliothek für die Beamten der Regierung, der Justizbehörden und der Kammer. Alle Bücher über Theologie, Erziehungswissenschaften, Medizin, Chemie, Physik, Naturwissenschaften, die ganze schöngeistige Unterhaltungsliteratur mitsamt den Klassikern wollte er herauslassen. Er schlug sogar vor, einen Teil der bewilligten Mittel der Provinzialschule zur Bildung einer neuen Schulbibliothek zu überweisen, und wollte ihr als Stamm die entsprechenden Sachen aus den bisherigen Beständen überlassen. Nach diesem Plan handelte man, aber die radikale Scheidung führte doch zu ärgerlichen Auseinandersetzungen mit dem Scholarchen. Schließlich einigte man sich, wenigstens die gelehrte Theologie und die Medizin fortzuführen.
Clostermeier hatte ohne Frage seine großen Meriten, aber es war immer schwer gewesen, mit ihm umzugehen. Es kam wie es kommen mußte. Schließlich hatten ihn Regierung und Kammer mit ihrem Dazwischenreden derart verärgert, daß er ihnen den ganzen Kram vor die Füße warf. Er ging, bevor die Landesbibliothek eröffnet war, schon nach zwei Jahren, wie er vorausgesagt hatte. Der ehemalige Kammerregistrator Wasserfall, den man schon im Juli 1821 als Bibliothekar angestellt hatte, wurde sein Nachfolger in der Bibliothek und im Archiv. Ein sehr langsamer Arbeiter, der nie fertig werden konnte. Dennoch war Clostermeiers Anlage für seine Zeit ganz vortrefflich, so daß die Detmolder Landesbibliothek als eine der bestkatalogisierten Bibliotheken Deutschlands bezeichnet werden konnte.
Nach Wasserfalls Tode 1838 entschloß man sich endlich, die beiden nicht wesensverwandten Verwaltungen, Bibliothek und Archiv, zu trennen. Ferdinand Freiligrath dachte man als Leiter zu gewinnen. Anfangs geneigt, lehnte er zuletzt doch ab. Man übertrug die Stelle dem Auditor Preuß, einem Juristen, der sich wegen seiner ausgezeichneten geschichtlichen Kenntnisse und seines großen literarischen Interesses besonders eignete. In 52jähriger unermüdlicher Arbeit hat er der Landesbibliothek ihren Charakter gegeben. 1884 vermachte eine Frau von Donop zu Detmold der Bibliothek testamentarisch eine wertvolle Sammlung von Büchern und Kunstgegenständen. Allmählich waren die Räume im Marstallgebäude bedenklich enge geworden. Infolgedessen veranlaßte die Fürstinwitwe Elisabeth, die sich von jeher lebhaft für die Bibliothek interessiert hatte, die Prinzessin Luise zur Lippe, ein ihr gehöriges Palais in Detmold in der Hornschen Straße dem Lande zur Unterbringung der Landesbibliothek zu schenken. Der Umzug erfolgte 1886.
Preuß’ Nachfolger wurde der Gymnasialprofessor Dr. Anemüller, von 1918 ab hauptamtlich. Zugleich wurde das Personal durch fachmännisch vorgebildete Beamte vermehrt und die Zahl der Ausleihestunden erweitert. Einen wertvollen Zuwachs erfuhr die Landesbibliothek 1908 durch die Schenkung des damaligen Legationsrats, späteren Reichsministers Rosen, der die orientalischen Bibliotheken seines verstorbenen Vaters des Generalkonsuls Dr. Georg Rosen und seines verstorbenen Oheims Prof. Dr. Friedrich Rosen überwies. 1906 folgte als Schenkung die Bibliothek des Detmolder Landgerichtsrats Bröffel. Da der Benutzerkreis sich ständig ausdehnte und auf die Bedürfnisse weitester Kreise der Bevölkerung Rücksicht genommen werden mußte, konnte man sich nicht dauernd darauf beschränken, nur wissenschaftliche Werke anzuschaffen, sondern mußte auch populäre Werke zur Verfügung stellen.
Prof. Anemüllers bibliothekarische Verdienst lagen außer in technischen Neuerungen auf dem Gebiet des Volksbibliothekenwesens. Von Volksschullehrern namentlich, die eine Belebung dieser Bibliotheken im Lande wünschten, war im Jahre 1909 der Regierung in einer Eingabe nahegelegt, Wanderbibliotheken mit staatlicher Unterstützung zu gründen. Diese Bewegung war anderwärts schon länger im Gange. Zwei Jahre später befürwortetete der Landesverein für Innere Mission in Lippe, der die Föderung der Volksbibliotheken als sein Hauptwerk ansah, von seinem Standpunkt aus ebenfalls bei der Regierung eine Unterstützung. Im Herbst 1912 konnte die praktische Arbeit nach dem von Anemüller aufgestellten Plan beginnen. Wie immer erschwerten anfangs Mißtrauen und Gegensätze das Werk. Im ersten Jahre beteiligten sich nur 22 Stellen. Doch schon im nächsten waren es 55, im Winter 1914 sogar 70 Stellen. Der Krieg, die Revolution und namentlich die Folgen des Brandes störten lange die Entwicklung. Endlich konnte 1923 der regelmäßige Betrieb wieder aufgenommen werden. Durchschnittlich bestanden in den letzten Jahren 50-55 Wanderstellen. Die Ausleihe an diesen Wanderstellen zeigt ein langsames, aber doch zuverlässiges Steigen, hängt natürlich überall von der Eigenart des Leiters ab. Wenn trotzdem die Einrichtung nicht ganz so wirkt, wie man es wohl erwarten könnte, so liegt es daran, daß sie von Anfang an nicht selbständige Einrichtung mit eigenem Personal war.
Die beiden oberen Stockwerke in dem Gebäude der Hornschen Straße waren 1886 dem Naturwissenschaftlichen Museum überwiesen worden. Um diesem Übelstande abzuhelfen, wurde das Museum 1921 in dem Neuen Palais in der Neustadt, das durch die Revolution Staatseigentum geworden war, untergebracht und das alte Gebäude vollständig der Landesbibliothek eingeräumt. Die Umbauten waren nahezu beendet, als am 22. November desselben Jahres infolge eines Schornsteinschadens das ganze Innere des Gebäudes durch Brand in wenigen Stunden zerstört wurde. Wenn es auch gelang, den größten Teil des Bücherbestandes zu retten, so wurden doch nahezu völlig vernichtet die Abteilungen Medizin, Naturwissenschaften, Landwirtschaft, Mathematik, Kriegswissenschaften, Dubletten, Reihen von Zeitungen und Zeitschriften, viel unkatalogisierte Bände und die Rosensche Bibliothek bis auf einen kleinen Rest. Mit Rücksicht auf die finanzielle Lage des Staates wurde von einem Neubau abgesehen und das bisherige Gebäude neu ausgebaut. Der Bücherbestand wurde in einem besonderen Magazin von sieben Stockwerken mit eisernen Büchergestellen untergebracht. Reichlich fließende freiwillige Sammlungen ermöglichten eine Wiederherstellung der verbrannten Abteilungen. Am 17. April 1923 wurde die neue Landesbilbiothek durch einen feierlichen Akt wieder eröffnet.
Die Anschaffungen richteten sich in den letzten Jahren, da wegen dauernd schwankender und beschränkter Mittel ein systematischer Ausbau nicht mehr möglich war, hauptsächlich nach den augenblicklichen Bedürfnissen des Lesepublikums, während des Bestehens der Detmolder Hochschule für Wirtschaftswissenschaften in den Jahren 1917-1924 sehr stark nach den Bedürfnissen der Studierenden. Ergänzt werden alle wissenschaftlichen Fächer, Theologie, Rechts- und Staatswissenschaften, Volkswirtschaft, Medizin, Philosophie, Philologie und Pädagogik, Geschichte, Geographie, Kunst, Technik und Naturwissenschaften. Letztere beide leider weniger, weil es sich bei ihnen vielfach um teure und schnell veraltende Werke handelt, auf deren Ankauf verzichtet werden muß. Die schöne Literatur, die auch anderwärts seit Jahren meist nebensächlich behandelt wurde, ist jetzt umfangreicher augestaltet. Die Landesbibliothek ist außerdem dem Reichs-Leihverkehr angeschlossen und kann dadurch nicht vorhandene Bücher nach Möglichkeit herbeischaffen. Dieser Leihverkehr wird sehr stark von unserer studierenden lippischen Jugend ausgenutzt. Über den ganzen Bücherbestand stehen dem Leser alphabetische und systematische Kataloge zur eigenen Durchsicht zur Verfügung.
Die Zahl der ausgeliehenen Bände stieg nach dem Brande in den Jahren 1928 bis zum abgelaufenen Betriebsjahr von 8.606 auf 15.269. Die Zahl der eingetragenen Benutzer war vor dem Brande wesentlich höher, da die Benutzung umsonst war. Seit dem Brande ist eine Lesegebühr von 3 RM. jährlich eingeführt. Seitdem schwankt die Zahl der eingetragenen Benutzer jährlich um 450. Doch ist die Zahl der tatsächlichen Leser höher, da Familienmitglieder, Nachbarn und dgl., die nicht zu fassen sind, umsonst mitlesen.
Schon vor dem Brande war mit der Ausleihe ein Lesesaal verbunden, der seit 1918 täglich geöffnet wurde. Die unmittelbare Folge dieser Öffnung war schon damals eine erhebliche Zunahme der Benutzungsziffern. Nach dem Brande wurden der räumlich wesentlich erweiterte Lesesaal und ein besonderes Studierzimmer, in denen 26 Leser bequem Platz finden, mit einer reichhaltigen Handbibliothek ausgestattet, die ohne weiteres benutzt werden kann. Ebenso liegen Zeitschriften und von Zeitungen außer lippischen Blättern jetzt noch je ein führendes Organ der wichtigeren politischen Parteien aus. Von Zeit zu Zeit werden im Lesesaal Ausstellungen von Seltenheiten der Bibliothek veranstaltet. Die Zahl der täglichen Leser stieg nach dem Brande bis zum abgelaufenen Betriebsjahr von 1.569 auf 2.975 jährlich.
So erfreulich diese ständige Zunahmen sind und das Bedürfnis einer Landesbibliothek in Lippe erweisen, um so bedenklicher ist der Bücherzuwachs zurückgegeangen, da der Etat für Anschaffungen jährlich herabgesetzt werden mußte. Während für das Betriebsjahr 1922/23 noch ein Bücherzuwachs von 1837 Bänden verzeichnet werden konnte, ist er im abgelaufenen Jahre auf 976 gesunken und wird voraussichtlich im laufenden Jahre kaum noch ein Drittel dieser Höhe erreichen, da die ausgeworfenen Mittel kaum ausreichen, die laufenden Fortsetzungen zu bezahlen.
Am 1. Dezember 1924 trat Direktor Dr. Anemüller in den Ruhestand. Die Verwaltung der Bibliothek wurde wieder mit der des Landesarchivs vereinigt.