Charakter und Aufgaben der Landesbibliothek

von Fritz Copei

In: Voksblatt Jg. 9 (1928) Nr. 224 vom 22. September.
Auch in: Lippische Landeszeitung 162 (1928) Nr. 225 vom 23. September.
Auch in Lippische Post Jg. 81 (1928), Nr. 224-225 vom 24. bis 25. September.

In der alten Ordnung der Gothaer Bibliothek vom Jahre 1774 steht der hübsche Satz: „Wer ein Buch näher ansehen will, muß es sich vom Bibliothekar ausbitten, der es ihm dann vorzeigen, allenfalls auch darin zu lesen verstatten wird.“ Dreißig Jahre zuvor hatte der Bibliothekar Antiquarius Schläger nach scharfen Maßnahmen zur Einschränkung des Bibliotheksverkehrs befriedigt an die Regierung berichtet, „daß dem vormaligen übermäßigen Zulaufe bestmöglich gesteuert worden“ sei. Aber Bedürfnisse lassen sich durch Bibliotheksordnungen nicht zurückdrängen, immer mehr sind seither die Bibliotheken öffentlich geworden und es liegt eine tiefe Kluft zwischen jenem löblichen Beginnen des Herrn Antiquarius und dem Streben der heutigen Volksbüchereibewegung, mit den breitesten Schichten der Bevölkerung Fühlung zu gewinnen. Geblieben ist, was den Umfang der „Oeffentlichkeit“ angeht, einzig der sachlich begründete Unterschied von wissenschaftlichen und allgemeinen Volksbüchereien.

Unsere Landesbibliothek ist, formal gesehen, öffentliche Bibliothek im weitesten Sinne: die Benutzung steht jedem gegen die geringe Jahresgebühr von 3 Mark frei. Ihr gegenwärtiger Charakter aber macht das Prädikat „öffentlich“, im tieferen Sinne genommen, hinfällig. Ihrer ganzen Tradition nach ist sie wissenschaftliche Bibliothek. Jahrhunderte haben einen ungeheuer wertvollen Bestand an Büchern geschaffen. Sind auch durch die Brandkatastrophe wichtige Teile verlorengegangen, so ist doch ein vorzüglicher Grundstock wissenschaftlicher Literatur vorhanden, die Ueberweisung der Bücherei der ehemaligen Fürst-Leopold-Akademie hat diesem, vor allem in seinen modernen Teilen, eine wertvolle Ergänzung gebracht. Wer für wissenschaftliche Arbeiten hier Hilfe sucht, darf sich immer freuen über die guten Bestände, nicht minder aber über das hilfsbereite Entgegenkommen un ddie ausgezeichnete Arbeit von Beamten und Personal der Bibliothek. So scheint alles in bester Ordnung zu sein. Aber immer mehr erweist sich der gegenwärtige Aufbau der Landesbibliothek als schließlich unhaltbar.

Die eine Ursache liegt in einer Zeitentwicklung, die alle, auch die großen Bibliotheken bedroht: selbst leistungsfähige Büchereien vermögen nicht mehr Schritt zu halten mit dem ungeheuren Anwachsen der wissenschaftlichen Literatur der sich immer mehr differenzierenden Sondergebiete, um wieviel weniger die kleinen Bibliotheken. Man rechnet in Fachkreisen ernsthaft mit der Gliederung der Aufgaben, mit einer Beschränkung der Arbeit der Einzelbibliotheken auf Sondergebiete. Ein gesteigerter Austauschverkehr müßte dann den notwendigen Ausgleich schaffen. Bei dieser Lage ist der bisherige ausschließlich wissenschaftliche Charakter unserer Landesbibliothek nicht aufrechtzuerhalten. Die naturgemäß beschränkten Mittel gestatten ihr schließlich nur noch ein Scheindasein als wissenschaftliche Bibliothek, denn die Wissenschaft erfordert unerbittlich ein Schritthalten mit den Ergebnissen der neuesten Forschung. So drängt sich die Frage auf, ob nicht eine Revision der gegenwärtigen Ziele nottut.

Brennender noch wird diese Frage, wenn wir den heutigen Wirkungsgrad der Bibliothek in Betracht ziehen. Dem Wissenschaftscharakter entsprechend ist der Benutzerkreis nur von geringer Ausdehnung. Wir verzichten vorläufig auf die Anführung von Zahlen, sie würde erschreckend wirken. Vielleicth werden die Kosten des Aufwandes im Einklang stehen mit den Leistungen der Bücherei; es wäre überflüssig, ihre Notwendigkeit darzulegen. In keinerlei Verhältnis aber steht der Umfang des Benutzerkreises zu den Möglichkeiten, welche die Bestände der Landesbibliothek für die allgemeine Volksbildungsarbeit bieten. Man hat in früheren Jahren in der Presse auf Umstände hingewiesen, die schuld sind an der geringen Besucherzahl: die ungünstige Lage, unzweckmäßige Ausleihzeiten, Mangel an Propaganda in den Zeitungen. Mißstände dieser Art sind zum Teil beseitigt, die Besucherzahl ist kaum gewachsen. Die Gründe dafür liegen aber tiefer: die Landesbibliothek vermag bei ihren heutigen Aufbauprinzipien unmöglich den inneren Kontakt zu gwinnen mit breiteren Schichten der Bevölkerung. Das Bestreben, den Wissenschaftscharakter zu wahren, findet seinen Ausdruck in der alten Bestimmung, daß schöne Literatur nur zu wissenschaftlichen Zwecken ausgeliefert wird, im übrigen aber gesperrt bleibt. Diese Festlegung, die strikte durchgeführt wird, muß einem größeren Publikum den Zugang zur Bibliothkesbenutzung verschließen, denn die Erfahrungen der Volksbüchereibewegung bestätigen die von vornherein einleuchtende These, daß der Weg zu einer allgemeinen Bibliotheksbenutzung in der Regel über die Benutzung der schönen Literatur führt. Also aus der Landesbibliothek eine Romanbücherei machen? Es ist selbstverständlich, daß man sich nciht dem zweifelhaften Experiment anschließen wird, die „Pseudoliteratur“ – Marlitt, Karl May und Genossen – aufzunehmen, nur um dem Bedürfnis des Publikums entgegenzukommen. Aber fest steht, daß die heute im wesentlichen brachliegenden Schätze der „schönen Literatur“ für die Aufgaben der Volksbildungsarbeit nutzbar gmacht werden können und müssen, daß aber auch der Gesamtbestand an wissenscahftlicher Literatur in weit höherem Maße benutzt werden wird, wenn man es versteht, bei der Beratung an die INteressen des Leserkreises, vor allem der jugendlichen Leser, anzuknüpfen. Es ist hier nicht der Ort, Erfahrungen der Volksbüchereibewegung anzuführen, die Damen der Verwaltung sind darüber besser orientiert als wir; einige Einrichtungen in der Bibliothek beweisen, daß man, wenn auch zaghaft, bemüht ist, gerade auch dem in der Benutzung unerfahrenen Leser den Zugang zu erleichtern.

Es kommt darauf an, diesen Weg konsequent weiterzugehen, den Außenstehenden heranzuziehen, indem man afu sein eWünsche und Neigungen eingeht und ihm das Gefühl der Unsicherheit gegenüber dem Bibliotheksgetriebe nimmt. Das kann aber nur geschehen, wenn man jene Wendung von spezifisch wissenschaftlicher zur allgemeinen Volksbildungsarbeit vollzieht. Solche Kursänderung bedeutet keinen Verzicht auf die wissenschaftlichen Aufgaben; nur würde man bei Neuanschaffungen auf die doch illusorischen, kostspieligen Ergänzungen in Spezialliteratur verzichten und sich auf die Standardwerke der wissenschaftlichen Literatur beschränken. Der heute schon rege Austauschverkehr ermöglicht die Ausfüllung der Lücken in Spezialgebieten.

Für diesen Ausfall könnten in stärkerem Maße als bisher die Bestände an „schöner Literatur“ und allgemeinbildenden Werken ergänzt werden; vielleicht wäre auch eine organisatorische Zusammenarbeit mit der mehr auf erzählende Literatur eingestellten Bibliothek des Bildungsvereings möglich. Stärkere Propaganda in der Presse (auf sie hat man bisher fast völlig verzichtet) – laufende Veröffentlichung der Eingänge mit Hinweisen auf besonders aktuelle Gegenstände und auf die Möglichkeiten des Austauschverkehrs – würde nicht schaden. Eine Aenderung im Katalogsystem würde auch dem in der Benutzung weniger Erfahrenen ein Eindringen leichter machen: der wertvolle Zettelkatalog, nach Verfassern geordnet, bietet dem unerfahenen Suchenden zu große Schwierigkeiten, ist ja auch nur in der Bibliothek benutzbar; die Aufstellung eines gedruckten, umfangreichen Sachkataloges ist im Augenblick weder möglich, noch auch wünschenswert, zweckmäßig und ntowendig wäre die Herausgabe eines handlichen Auszugskataloges, der alle für die Zwecke der allgemeinen Volksbildung besonders brauchbaren Bände zusammenstellte und fachlich gliederte (etwa in der Art des Katalogs der Charlottenburger Volksbücherei). – Dieses würde auch die Ausdehnung des Leihverkehrs über die Grenzen Detmolds hinaus begünstigen.

Man rechne auch mit psychologischen Faktoren: räumte man aus dem Lesesaal einen Theil des wenig benutzten wissenschaftlichen Apparates aus, und gäbe dort den Suchenden die Möglichkeit, in einem größeren Auswahlbestande zu „schmökern“, – die so häufig vorhandene SCheu so mancher Interessierter wäre überwunden, der Buchumsatz würde sehr bald eine Steigerung erfahren. Selbstverständlich wird mit der organisatorischen Umstellung eine stärkere pädagogische Arbeit der Bibliotheksbeamtinnen notwendig werden: Persönliche Vermtitlung des richtigen Buches an den richtigen Leser steht im Mittelpunkte der Arbeit. Diese Grundsätze sind nicht neu, es ahndelt sich um das ABC der Volksbüchereibewegung.

Die ERfahrungen dieser Bewegung weisen auber auch darauf hin, daß es, zumal in den Anfängen, notwendig ist, in enger Fühlung mit den Verbänden zu arbeiten, die sich irgendwelche Bildungsziele gesteckt ahben: mit den bürgerlichen Bildungsvereinen wie mit den Bildungseinrichtungen der Arbeiterbewegung, mit politischen Organisationen überahupt, mit der Jugendbewegung und mit den Schulen (besondres mit Fortbildungs- und höheren Schulen des Landes). Hier muß ein Kontakt geschaffen werden, nciht nur in organisatorischer Hinricht, sondern auch in bezug au fgemeinsame Bildungsarbeit. Eine Fülle wechselseitiger Anregungen könnte erwachsen. Die Initiative müßte wohl von der Bibliothek ausgehe, aber es wäre wertvoll, wenn die in Frage kommenden Verbände sich zu diesen Fragen äußerten. –

Man wird solche Pläne insgesamt als zwar gut gemeint aber „utopistisch“ verwerfen. Die Volksbüchereibewegung hat bewiesen, daß es kein Utopia gibt, wenn hinter der neuen Zielsetzung starke und zähe Arbeit steht. Gelingt es, die Landesbibliothek aus ihrer dornröschenhaften Vereinsamung zu lösen und in das Zentrum der Volksbildungsarbeit zu rücken, dann werden, dessen sind wir gewiß, Landespräsidium und Volksvertretung mit beim weiteren Ausbau helfen. Für den Augenblick ist kein kostspieliger Neuaufbau notwendig, entscheidend ist die Akzentverlegung in der Zielsetzung.

Man wird fürchten, daß es bei solcher Umänderung vorbei sein wird mit dem heutigen ein wenig „aristokratischen“ Gepräge der Landesbibliothek. Diese Befürchtung wird sich erfüllen. Aber uns will scheinen, daß jedes Sonderinteresse zu weichen hat, wennes um eine Arbeit geht, die in gleicher Weise dem Besten der Landesbibliothek wie dem gesamten Volke dient.