200 Jahre Grimms Märchen 4: 200 Jahre Wirkungsgeschichte
Grimms Märchen sind das erfolgreichste deutschsprachige Werk überhaupt. Während die erste Auflage 1812/1815 mit 900 bzw. 1.100 Exemplaren gedruckt wurde, steht heute die Gesamtauflagenzahl aller Ausgaben und Auflagen bei mehrstelliger Millionenhöhe. In über 160 Sprachen wurden die Märchen übersetzt.
Die Bibliographie „Kinder- und Jugendliteratur in deutscher Sprache von 1850 bis 1950“ von Aiga Klotz (Bd. 5, 1999) verzeichnet im Anhang 1997 unterschiedliche Einzel-, Teil- und Gesamtausgaben sowie weitere 756 veröffentlichte Theaterversionen, allein in deutscher Sprache. Dabei gelang es den Grimms ihrerseits, auch Märchen sich anzueignen, die älteren literarischen Quellen zugehören – Rotkäppchen beispielsweise ist für viele heute ein Grimmsches Märchen, nicht eines von Charles Perrault (1628-1703).
Die Grimmschen Märchenfiguren sind ebenso wie manche Formulierung längst in das kollektive Gedächtnis eingetreten und dort als Anspielungsreservoir verfügbar, z.B.: „Es war einmal“ (damit beginnen ca. 40% der Märchen), „Und wenn sie nicht gestorben sind“ (damit endet Fundevogel), „knusper knusper Knäuschen“ (in allen Auflagen heißt es eigentlich „knuper knuper kneischen“), „ich bin so satt, ich mag kein Blatt“ (meckert die Ziege im Tischlein deck dich), als „das Wünschen noch geholfen hat“ (das fügte Jacob Grimm in den Froschkönig ein seit der 3. Auflage 1837).
Märchenbilder: Beispiele Aschenputtel und Rapunzel
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Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Gesamtausgabe mit 90 Holzschnitten von Ludwig Richter. – Berlin, Wien: Harz, 1928.
Signatur: F 2136
Ludwig Richters Aschenputtel trägt ein Kreuz an einer Kette, damit ist sie als gutes Mädchen zu erkennen. Die Fensteröffnung – ohne Glas – verlegt das Bild in ein unbestimmtes Altertum.
Ludwig Richters Illustrationen dürften den Älteren vertraut sein. Der berühmte Maler und Zeichner (1803-1884) illustrierte zahlreiche Bücher, darunter auch Grimms Märchen, Musäus‘ Märchen und die Bibel. Er brachte es damit zum Volksillustrator des 19. Jahrhunderts, von dem Werke in fast jedem Haushalt zu finden waren und, in zahlreichen Neuausgaben, immer noch zu finden sind.
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Kinder– und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm. Zeichnungen von Otto Ubbelohde. Neudruck der
Ausgabe von 1922. – Niederwalluf : Sändig, 1970.
Signatur: D 1692.4-1
Otto Ubbelohdes Zeichnung zum Rapunzel-Märchen zeigt den Moment, in dem der Königssohn sich den wie ein Wasserfall fließenden Haaren Rapunzels nähert. Der Fachwerk-Turm ist nach dem Vorbild eines realen Bauwerks gestaltet (Rapunzelturm in Amönau).
Otto Ubbelohde (1867-1922) war Maler und Illustrator. Die Märchen-Illustrationen sind sein bekanntestes Werk. Die erste Ausgabe erschien 1909.
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Deutsche Märchen, gesammelt durch die Brüder Grimm. Hg. von M. Thilo-Luyken. Mit vielen Bildern von Dora Polster. – 125.000. – Ebenhausen: Langewiesche-Brandt, 1921.
Signatur: D 133da
In Dora Polsters Silhouette (1911) beobachtet der Königssohn die Hexe beim Ersteigen des Turms, der seltsamerweise unten eine Tür oder ein Fenster zu haben scheint. Die Bäume haben ornamentierende Funktion und geben dem Bild seine Form.
Dora Polster-Brandenburg (1884-1958) war eine Malerin, Grafikerin und Buchillustratorin. Die Deutsche Bundespost verwendete eine ihrer Silhouetten für die Briefmarke zu den Bremer Stadtmusikanten (1982).
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Grimms Märchen. Mit Illustrationen von Ruth Koser-Michaels. – München: Droemersche Verlagsanstalt, 1957.
Signatur: D 133i
Bei Ruth Koser-Michaels (Erstausgabe 1937) fällt dem Königssohn, da er von der Hexe überrascht wird, der Dreispitz vom Kopf. Der Zopf ist so dick, dass die Hand des Kletterers ihn fast nicht umfasst. Der Königssohn ist – aus unerfindlichen Gründen – im Gewand des 18. Jahrhunderts gekleidet, mit gepuderter Perücke, Dreispitz, Bundhose, Schnallenschuhen und Degen.
Ruth Koser-Michaels (1896-1968) war eine deutsche Zeichnerin und Illustratorin. Grimms Märchen war 1937 das erste von ihr illustrierte Märchenbuch, bevor sie sich den Märchen von Andersen, Hauff, Bechstein und 1001 Nacht widmete. Für ihre Popularität spricht, dass es in der Neuauflage immer noch lieferbar ist.
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Brüder Grimm: Märchen. Mit Illustrationen von Willy Knabe. – Sonthofen: Grehl, 1949.
Signatur: D 133f
Willy Knabes Aschenputtel ist ein blondes, properes deutsches Mädel, das mit modischen V-Ausschnitt unbekümmert lächelnd in seiner gut ausgestatteten Küche sitzt – mit einem Wort: Kitsch.
Über Willy Knabe (1896-1962) ist kaum etwas bekannt. In der 5bändigen Bibliographie der Kinder- und Jugendliteratur von Aiga Klotz ist ihm nur dieses Buch zugeschrieben. Es erschien 1949 mit dem Segen der US-amerikanischen Militärregierung.
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Die schönsten Märchen der Gebrüder Grimm. Mit 204 Illustrationen von Fritz Fischer. – Gütersloh: Bertelsmann, 1957.
Signatur: D 133 ba
In Fritz Fischers Zeichnung (1957) ersteigt die Hexe im Laufschritt Rapunzels Turm. Strähniges Haar aus unbestimmter Höhe dient ihr als Seil; die ebenso strähnigen Nadelbäume im Hintergrund sind deutlich kleiner.
Fritz Fischer (1911-1968) war ein Zeichner und Illustrator. Für ihn waren Zeichnung und Text eine Einheit, daher schrieb er seine Vorlagen mit der Hand ab, um in das Manuskript zu zeichnen.
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Der goldene Schlüssel. 101 Märchen … mit Illustrationen versehen von Eva Johanna Rubin. – München: Betz, 1969
Signatur: D 1691.4°
Eva Johanna Rubin zeigt Aschenputtel nicht mit ihren Vögeln oder auf der Flucht am Fuß der Treppe, sondern in dem Moment, da der Prinz ihr den Schuh anprobiert. Die missgünstigen Blicke von Stiefmutter und Stiefschwestern scheinen die wieder einfach gekleidete und frisierte Aschenputtel nicht zu stören.
Eva Johanna Rubin (1926-2001) war eine bekannte Kinderbuchillustratorin, deren Werke „voller spielerischer Heiterkeit und verstörender Phantastik“ sind. Die Illustrationen des Goldenen Schlüssels sind typisch, indem sie, auch wenn sie eine räumliche Szene zeigen, flächig-abstrakt komponiert sind.
Grimms Märchen als erfolgreiches „Franchise“
Der Erfolg der Grimmschen Märchen lud und lädt zur kommerziellen Nutzung ein, zumal die Texte längst Allgemeingut geworden sind. Die Bezeichnung „Franchise“ ist also in diesem Punkte ungenau: zwar wurde und wird gutes Geld mit den Märchen verdient; Lizenzzahlungen fließen dafür aber nicht.
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Kindertasse mit Motiv „Die Bremer Stadtmusikanten“.
LWL-Freilichtmuseum Detmold, 2008:1078.
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Kindertasse mit Motiv Goldesel (aus „Tischlein deck dich“). LWL-Freilichtmuseum Detmold, 2008:1093
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Puzzlespiel „Aschenputtel“
LWL-Freilichtmuseum, 1984:653
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Puzzlespiel „Dornröschen“
LWL-Freilichtmuseum Detmold, 1984: 653
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Puzzlespiel „Rotkäppchen“
LWL-Freilichtmuseum Detmold, 755-92.3
Der einfache Zuschnitt der Legespiele zeigt deutlich, dass diese Märchenbilder bereits für die Allerkleinsten gedacht waren.
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Aschenbrödel [Postkarte],
LWL-Freilichtmuseum, 1494-90
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Hans im Glück [Postkarte],
LWL-Freilichtmuseum, 1490-90
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Das tapfere Schneiderlein [Postkarte],
LWL-Freilichtmuseum,1491-90
Große Bekanntheit erzielte Paul Hey (1867-1952) mit seinen Illustrationen für die Deutschen Märchen als Serie von Zigarettensammelbildern im Auftrag von Reemtsma. Das Sammelalbum erschien 1939 mit rund 100 gemalten Illustrationen. Das Sammelalbum enthielt die abgedruckten Märchen und war mit einem Preis von einer Reichsmark für jedermann erschwinglich. Die Bilder zu den Märchen gab es jeweils beim Kauf einer Schachtel Zigaretten. (Quelle: Wikipedia, Artikel Paul Hey)
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Grimms Märchen, hg. von Gustav Schalk, Berlin: Knoblauch, [ca. 1910]. LWL-Freilichtmuseum, 2164-88
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Grimms Ausgewählte Märchen, Berlin: Comenius, 1925. LWL-Freilichtmuseum, 1842-89 S
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Grimms Märchen. [Sammelklebealbum] Illustriert von Herta Broneder, 10. Aufl. (113.-132. Tsd.), Plochingen: Herba-Verlag, 1967. LWL-Freilichtmuseum, 93-91
Kinder-Auswahlausgaben der Märchen, Ausmalbücher oder Sammelklebealben sorgten für die Präsenz der Märchen in jedem Kinderzimmer. Im Vorwort schreibt die Illustratorin Herta Broneder (1962): „Nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt wachsen die Kinder in der Liebe zu den Märchen der Brüder Grimm auf. […] Die schlichten Worte „Es war einmal …“ haben eine Kraft in sich und verbreiten einen Zauber um sich […]“.
Schulwandbilder
Film, Fernsehen etc.
Disneys Animationsfilm Rapunzel – neu verföhnt (Originaltitel: Tangled), 2010 zum Weihnachtsgeschäft in den Kinos, bestimmt gegenwärtig die Suchergebnisse in Googles Bildersuche; der Screenshot zeigt die erste Ergebnisseite. Rapunzel ist nur die letzte in der Reihe der von Disney interpretierten Märchenfiguren: Schneewittchen (1937), Aschenputtel / Cinderella (1952), Dornröschen (1957).
Die ungebrochene Inspirationskraft – und die Überzeugung, damit Geld verdienen zu können auch jenseits von Disneys Zeichentrick – bezeugen Filme und Fernsehserien der letzten Jahre. Dabei wird deutlich, dass die Kreativindustrie das Zielpublikum der modernen Interpretationen durchaus bei Jugendlichen und Erwachsenen sieht.
- Sigourney Weaver war die Stiefmutter von „Snow white“ (1996) in dem „A Tale of Terror“ untertitelten Streifen.
- Julia Roberts gibt 2012 in Spieglein Spieglein die böse Stiefmutter Schneewittchens, Charlize Theron in Snow White and the Huntsman.
- Die Regisseurin von „Twilight“ inszenierte 2011 Rotkäppchen („Red Riding Hood“) als Thriller.
- Der US-Sender ABC sendet die Serie Once upon a time mit Motiven der Grimms (Okt. 2011 bis Mai 2012).
- Der US-Sender NBC sendet, ebenfalls seit Oktober 2011, die Krimiserie Grimm.
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Fables. [Comic] Bd. 11 Der gute Prinz, Bd. 12 Krieg und andere Kleinigkeiten. Autor: Bill Willingham. Stuttgart: Panini, 2010.
Privatbesitz
Als Bill Willingham 2002 die Serie „Fables“ für das amerikanische Comiclabel Vertigo zu schreiben begann, konnte er nicht ahnen, welchen Erfolg auch bei den Kritikern er damit haben würde. Fables handelt von Märchen- und anderen literarischen Figuren, die aus der „Heimat“, den Märchenländern, nach einer Invasion in die Welt der „Normalos“ vertrieben wurden. Der erste Band beginnt im New York der Gegenwart im kleinen Stadtteil „Fabletown“ mit der Ermordung von Rosenrot, Schneeweißchens Schwester. Auf die Suche nach dem Mörder macht sich Bigby (Big Bad) Wolf.
Im Nachwort von Bd. 12 erinnert sich Willingham an seine Zeit in Deutschland und verweist ausdrücklich auf die „Märchenstraße“ und die Brüder Grimm als Inspirationsquelle. Jeder Band beginnt mit einem „Who is who“ der bisherigen Geschichte, das verdeutlicht, wie frei sich Willingham im Reich der Literatur bedient.
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Brothers Grimm. [DVD] Regie: Terry Gilliam. USA, MGM Pictures, 2005.
Privatbesitz
Der Regisseur Terry Gilliam schickte 2005 seine Stars Matt Damon (Good Will Hunting, Die Bourne-Identität) und Heath Ledger (Batman: The Dark Knight Returns) als Jake und Will Grimm in die fiktive Stadt Marbaden zur Zeit der napoleonischen Besetzung. Jake und Will sind Betrüger, die ihr Geld damit verdienen, abergläubischen Dorfbewohnern Geister- und Hexenaustreibungen vorzuspielen. Als man ihnen auf die Schliche kommt, zwingt sie der französische Besatzungschef (Jonathan Pryce), dem Verschwinden von Kindern in Marbaden nachzugehen. Mit Unterstützung einer Jägerin (Lena Headey) gelingt es ihnen, die böse Hexe (Monica Belluci) unschädlich zu machen, die die Lebenskraft der Kinder stiehlt.