7 Nachmärz

Teil 7:
„Schwachmatische Stimmung“ im Nachmärz

Reisen in Europa 1850-1852Nr. 137

Das Scheitern der Revolution verursachte bei Weerth eine tiefe und andauernde Resignation. Er betrachtete auch seine schriftstellerische Arbeit als gescheitert: „Jetzt schreiben! Wofür? Wenn die Weltgeschichte den Leuten die Hälse bricht, da ist die Feder überflüssig.“ Nach seiner Entlassung aus dem Kölner Gefängnis stellte er die politische wie die literarische Arbeit ein für allemal ein. Er beklagte seine „schwachmatische Stimmung“ und betäubte sich mit rastloser geschäftlicher Aktivität. „Der Handel ist für mich das weiteste Leben, die höchste Poesie“, schrieb er im Mai 1851 an Ferdinand Lassalle. Sofort nach seiner Haftentlassung nahm er in Hamburg seine Arbeit für die Textilfirma Emanuel & Son wieder auf.

Der Firmensitz von Emanuel & Son in Hamburg war in den Jahren 1849-1852 Ausgangspunkt für Weerths Geschäftsreisen. „Aus einem Redakteur der Neuen Rheinischen Zeitung bin ich plötzlich wieder ein Mensch geworden, dessen Name in dem großen Buch der Hamburger Börse angeschrieben steht.“ – „Dort stehe ich an Pfeiler Nr. 5 und lausche dem ungeheuerlichen Gemurmel der versammelten Handelswelt, das bald wie Wagengerassel, bald wie ferner Donner, bald wie das Heulen der Meeresbrandung an die Ohren schlägt und uns an das Geräusch jener großen Sprachenverwirrung erinnert, von der schon im alten Testamente geschrieben steht, bei Gelegenheit des Turmbaus von Babel.

136
Aussicht von der Elbhöhe (Stintfang) in Hamburg
Stahlstich von Johannes Poppel nach einer Zeichnung von Carl Alexander Lill
B 8/23 W

137
Das Innere der Neuen Börse in Hamburg
Stahlstich von Johannes Poppel nach einer Zeichnung von Carl Alexander Lill
B 8/9 W

Zunächst erledigte er einige Aufträge in England und Schottland. Dort schiffte er sich Ende August 1850 zu einer halbjährigen Handelsreise nach Portugal und Spanien ein, wo er neue Geschäftsbeziehungen anbahnen sollte. Dabei ging es weniger um den Wollhandel, der sein Berufsleben bisher bestimmt hatte, als um den Handel mit Baumwolle, Leinen, Eisen und Holz, um den Export von Öl und Trauben und den Import von englischen Industrieprodukten.Nr. 140 Nr. 141

Weerth verbrachte einen Monat in Portugal und wählte dann Cadiz als Ausgangsstation für seine Fahrten nach Andalusien und Gibraltar. Der Aufenthalt in der Fremde tat ihm gut nach der großen Enttäuschung all seiner politischen Hoffnungen: „ich fühle mich wie neugeboren“, schrieb er seiner Mutter, und es kam ihm vor, „als ob die Menschen immer besser würden, je weiter man in den Süden kommt.“ Anfang des Jahres 1851 reiste er weiter nach Madrid und Barcelona, dem Hauptsitz der spanischen Industrie. Per Schiff und Eisenbahn erreichte er zuletzt innerhalb weniger Tage Paris, wo er seinem großen Vorbild Heinrich Heine einen Besuch abstattete. Mitte Februar 1851 war er wieder in Hamburg.

Hatte er sich früher für die sozialen und politischen Verhältnisse der von ihm bereisten Länder interessiert, so trat neben dem Handel jetzt die Landeskultur in den Vordergrund. Er besuchte Museen, Paläste und Sehenswürdigkeiten und berichtete in seinen Briefen ausführlich davon. Seine Reisebriefe ersetzten ihm die literarische Tätigkeit. Die sozialen Missstände in Spanien, die ihm nicht entgangen sein können, erwähnte er allerdings mit keinem Wort. Diesen Fragen wollte er sich nicht mehr stellen, seine „eigene verfehlte Laufbahn“ nicht mehr täglich schmerzhaft spüren.

138
Carte itinéraire physique, politique et routière de l’Espagne et du Portugal
Aus: Itinéraire descriptif, historique et artistique d l’Espagne et du Portugal
Paris: Hachette, 1859
K 290

Von September 1850 bis Februar 1851 bereiste Weerth die iberische Halbinsel. Geschäftlich interessant war vor allem Andalusien und die englische Kolonie Gibraltar. Über die Stationen Madrid und Barcelona kehrte er auf dem Landweg nach Hamburg zurück.

139
Merson, Olivier:
Guide du voyageur à Lisbonne. Histoire – Monuments – Moeurs
Paris: Hachette, 1857
K 1696

„Lissabon gefällt mir ziemlich gut, obgleich ich schon viele weit schönere Städte sah. Aber der Tejo ist ganz herrlich, voller Schiffe; aus meinem Fenster sehe ich über seinen mondbeglänzten Spiegel. Ich niste mich stets am Wasser an. Das Klima bekommt mir fortwährend sehr gut, ebenfalls der schöne Wein, der hier nur spottwenig kostet.“

140
Cadiz
Lithographie von C. Studer, 1836
B 23 W (Neuerwerbung 2006)

„Wie ein weißer Edelstein liegt Cadiz in der blauen See. Links die Bucht voller Schiffe, rechts der Atlantik, und ewig schönes Wetter!“

141
Gibraltar
Stahlstich von Joseph Clayton Bentley und Charles Bentley nach einer Zeichnung von H. E. Allen
B 24 W (Neuerwerbung 2006)

Im November/Dezember 1850 war Weerth mehrere Wochen in Gibraltar, das nicht nur geostrategisch wichtig, sondern als Freihafen auch von großer kommerzieller Bedeutung war. Ihn faszinierte dieser „dürre Felsen, der nichts produziert und doch alles besitzt, was auf der Welt ersonnen und ausgeführt wird.“Nr. 142

142
Alfred Germond de Lavigne:
Itinéraire descriptif, historique et artistique d l’Espagne et du Portugal
Paris: Hachette, 1859
K 290
Aufgeschlagen: Routen von Sevilla nach Cadiz und von Cordoba nach Sevilla

Von Cadiz aus unternahm Weerth zweimal die Reise per Dampfboot nach Sevilla, „einer größern, viel besungenen Provinzstadt, die mit Öl und Ölgemälden handelt, treffliche maurische Überreste, die schönsten Murillos, eine enorme Kathedrale, hübsche Tänzerinnen und Zigeuner besitzt und am Guadalquivir liegt, ein Fluß, der verdorbener Schokolade auf ein Haar ähnlich sieht und an Flachheit der Ufer dem Rhein in Holland gleicht und dem Busen einer alten Jungfer.“

143
Potpourri d’après des Thêmes de l’Opéra:
Le Barbier de Seville de Rossini
pour le Piano-Forte de Poss. F. Lahmann
Handschriftliche Kopie des Detmolder Hoftheaters vom 23.9.1852
Mus-n 8770a

Im Herbst 1849 besuchte Weerth eine beeindruckende Inszenierung der Oper Rossinis in Manchester. Als er im November 1850 nach Sevilla kam, schrieb er seiner Mutter: „Was Wunder also, daß ich unwillkürlich an zu singen fing, als ich das Haus sah, in dem der Rossinische Barbier gewohnt haben soll.“

144
Georg Weerth an Wilhelmine Weerth
Gibraltar, 1.12.1850 und Granada, 10.12.1850
A 4 W

Der ausführliche Brief berichtet von Weerths Aufenthalt auf Gibraltar und seiner Weiterreise über Malaga nach Granada.

145
Cour de L’Alberca, Alhambra
Aus: Souvenirs de Grenade et de L’Alhambra
Lithographies par [Philibert Joseph] Girault de Prangey
Paris: Veith & Hauser, 1837
TB 2271.2°

„Granada ist des Eroberns wert. Steil erhebt sich der Gipfel der Sierra 13 000 Fuß hoch über der Meeresfläche, und während dort oben der ewige Schnee im Sonnenbrande funkelt, pflückt man dort unten in Granada und in den Gärten der Alhambra ewige Rosen an orangenumdufteten Fontänen.“ Die Lippische Landesbibliothek besitzt, leider nur fragmentarisch, das Mappenwerk von Philibert Joseph Girault de Prangey mit hervorragenden, handkolorierten Lithographien der Alhambra und ihrer baulichen Details.

146
Ford, Richard:
A Handbook for travellers in Spain
2 Bde. – 3., vollständig revidierte und ergänzte Auflage
London: Murray, 1855
K 1859

147
Neues Spanisch-Deutsches und Deutsch-Spanisches Wörterbuch
Nach der neuesten, seit 1815 von der Spanischen Akademie sanctionirten Orthographie
von C. F. Franceson
2., sehr vermehrte und verbesserte Auflage
2 Bde. – Leipzig: Fleischer, 1848
Ph 1534d

„Mit der spanischen Sprache geht es schon etwas besser, und da ich mich außerdem in drei andern Zungen flüssig auszudrücken verstehe, so habe ich nur hin und wieder Schwierigkeiten, die bald überwunden sein werden“, schrieb Weerth im Oktober 1850 an seine Mutter.

148
Don Quixote und Sancho Panza auf Abenteuer ziehend
Stahlstich von Adolf Schroedter
Graphische Sammlung, Mappe 8

149
Der sinnreiche Junker Don Quixote von La Mancha
von Miguel Cervantes de Saavedra
Mit einer Einleitung von Heinrich Heine
2 Bde. – Stuttgart: Verlag der Classiker, 1837-1838
F 365

„Morgens waren wir in der Mancha, der klassischen Provinz Don Quijotes, die ein flaches Hochland ist und sehr gut bebaut scheint. Den ganzen Tag fuhren wir nun durch uninteressante Kornfelder, die teilweise noch bearbeitet wurden, frühstückten in Valdepeñas und hielten nachmittags vor der berühmten Venta (kleines Wirtshaus) de la Quesada, in der einst Don Quijote zum Ritter geschlagen wurde. Natürlich ist diese alte Venta oft umgebaut und nicht mehr in ihrer ursprünglichen Form vorhanden, das Haus liegt aber noch an derselben Stelle, an den Sümpfen der Guadiana, und im Hofe rieselt noch dieselbe Quelle, die Cervantes ausdrücklich erwähnt hat.“Nr. 150 Nr. 151 Nr. 153 Nr. 154 Nr. 155 Nr. 156 Nr. 159

150
Stiergefecht in Madrid
Holzstich, 1864
B 25 W (Neuerwerbung 2006)

Am 4. Januar 1851 besuchte Weerth in Madrid einen Stierkampf. „Es gereut mich natürlich nicht, daß ich die Geschichte ansah, denn man muß alles sehen; aber ich muß gestehen, daß ich nie etwas Ekelhafteres erblickt habe. Man versichert mir zwar, daß sich dieser häßliche Eindruck bei öfterem Ansehen verwische, aber dadurch wird das Scheußliche nicht besser, und man kann sich zuletzt auch an das Abscheulichste gewöhnen.“ Später hat er in der peruanischen Hauptstadt Lima noch einmal einen Stierkampf miterlebt.

151
Madrid
In: Karl von Rotteck: Spanien und Portugal. Geographische, statistische und historische Schilderung der pyrenäischen Halbinsel. – Karlsruhe, Leipzig: Kunst-Verlag, 1839
K 670

In Madrid besuchte Weerth die Puerta del Sol, den Prado, das Museum, die Oper und den nordwestlich der Hauptstadt gelegenen Escorial.

152
Barcelona
Ansicht von Norden, von oberhalb des Bahnhofs
Lithographie von Alfred Guesdon
40 x 53 cm
Graphische Sammlung, Mappe 17

Barcelona war Mittelpunkt der spanischen Textilindustrie, das „spanische Manchester“. Während seines elftägigen Aufenthalts war Weerth ausschließlich mit geschäftlichen Angelegenheiten befasst.

153
Heinrich Heine
Lithographie von G. Küstner
GA B 233

Heine ehrte und liebte Weerth „unter allen neuern Autoren am meisten“. Anfang Februar 1851 besuchte er ihn in seiner Pariser „Matratzengruft“. Er berichtete: „Wunderbar ist es indes, wie der Geist, der Verstand, der Witz dieses merkwürdigen Mannes auch noch nicht im geringsten gelitten hat. An zwei Tagen saß ich jedesmal mehrere Stunden an seinem Bette. Von Schmerzen gefoltert, hörte er bisweilen auf zu sprechen; die Pausen währten aber nur einige Minuten, und von neuem fing er dann an zu reden, wie er seinerzeit geschrieben, so voller toller und himmlisch-weiser Arabesken, daß ich abwechselnd laut auflachen mußte und vor Rührung hätte weinen mögen.“

154
Romanzero
von Heinrich Heine
Hamburg: Hoffmann und Campe, 1852
D 943 ei

Seit 1848 steckte die Beziehung zwischen Heine und seinem Verleger Julius Campe in einer schweren Krise. Aufgrund von Weerths Vermittlung besuchte Campe im Juli 1851 seinen Autor in Paris und einigte sich mit ihm über die Herausgabe des neuen Gedichtbandes „Romanzero“. Der Band erschien Mitte Oktober 1851, und Campe sandte Weerth umgehend ein Exemplar nach Bradford.

Weitere Reisen führten ihn innerhalb des nächsten Jahres mehrmals nach England, er verlegte seinen Wohnsitz wieder nach Bradford und bereiste von dort aus Holland, Thüringen, Sachsen, Schlesien und Böhmen. Nirgendwo hielt es ihn länger: „Aber was ist das Rätsel meiner Unstetigkeit und daß ich keine zehn Minuten ruhig mehr auf dem Hintern sitzen kann? Die Revolution ist schuld daran! Die Revolution hat mich um alle Heiterkeit gebracht“, heißt es in einem Brief an Marx vom März 1851.

155
Die Communisten-Verschwörungen des neunzehnten Jahrhunderts
Im amtlichen Auftrag zur Benutzung der Polizei-Behörden der sämmtlichen deutschen Bundesstaaten auf Grund der betreffenden gerichtlichen und polizeilichen Acten dargestellt
von [Carl G.] Wermuth und [Johann C.] Stieber
2 Theile in einem Band. – Berlin: Hayn, 1853-1854
St 7024 (aus der Regierungsbibliothek Minden)

Nr. 727: Steckbrief Georg Weerth, der im Frühjahr 1851 in Hamburg Kontakt zu Heinrich Bürgers unterhielt, einem Redaktionskollegen der Neuen Rheinischen Zeitung. Bürgers reiste im Auftrag des Bundes der Kommunisten durch Deutschland, er wurde im Mai 1851 in Dresden verhaftet.

156
Anzeiger für die politische Polizei Deutschlands auf die Zeit vom 1. Januar 1848 bis zur Gegenwart. Ein Handbuch für jeden deutschen Polizeibeamten. Hrsg. von [Friedrich Rang].
Dresden: Liepsch u. Reichard, [1855]
H 6255 (aus der Regierungsbibliothek Minden)

S. 149: In Polizeilichen Gewahrsam zu nehmen sind: „Bürgers Heinrich, Dronke Ernst, Engels Friedrich, Weerth Georg, Wolff Ferdinand und Wolff Wilhelm, sämmtlich zu Köln und im Jahre 1848 das Redaktionscomité mit Karl Marx an der Spitze des schon benannten Organs der Social-Demokratie Rhein-Preußens, der ‚neuen Rheinischen Zeitung‘ bildend; sie alle gehören der ungebundensten Socialdemokratie zu.“

157
Official descriptive and illustrated Catalogue of the great Exhibition of the Works of Industry of all Nations, 1851
Bd. 1. – London: Spicer, 1851
Luxusausgabe. Geschenk der englischen Regierung an die lippische Regierung
TB 1g.2°

Mit seinem Bruder Carl besuchte Weerth im Juli 1851 die internationale Industrieausstellung in London. An dieser ersten Weltausstellung beteiligten sich ca. 14.000 Aussteller, es kamen mehr als 6 Millionen Besucher.

158
Official descriptive and illustrated Catalogue of the great Exhibition of the Works of Industry of all Nations, 1851
3 Bde. – London: Spicer, 1851
Tb 20.4°62

Diesen Katalog schickte Weerth am 12.3.1852 an seinen Bruder Carl, mit dem gemeinsam er die Londoner Industrieausstellung im Juli 1851 besucht hatte.

159
General Catalogue of Articles from the German Zoll-Verein and Northern Germany sent to London exhibition of Industry
Berlin: Decker, London: Timm, 1851
TB 62

Lippe hatte sich an der Industrieausstellung nicht beteiligt.

160
Die Lage der Weber und Spinner im Schlesischen Gebirge und die Maßregeln der Preußischen Staats-Regierung zur Verbesserung ihrer Lage
Unter Benutzung amtlicher Quellen zusammengestellt von Alexander von Minutoli
Berlin: Hertz, 1851
St 7243 (aus der Regierungsbibliothek Minden)

Im schlesischen Riesengebirge gab es eine bedeutende Textilindustrie und bereits Anfang des 19. Jahrhunderts ein verelendetes Industrieproletariat. Hier hatten die Weber schon 1844 den Aufstand gewagt. Er war von preußischem Militär niedergeschlagen worden. In Hermann Püttmanns „Deutschem Bürgerbuch“, in dem 1845 Weerths Text „Die Armen in der Senne“ erschienen war, hatte Wilhelm Wolff ausführlich über den Aufruhr von 1844 berichtet. Weerth, der im April 1852 im Riesengebirge unterwegs war, erwähnt die sozialen Missstände mit keinem Wort.

Mitte Mai 1852 rief ein Telegramm Weerth nach Hamburg. Emanuel & Son steckte in der Insolvenz. Weerth konnte noch einige Geschäfte abwickeln und Gelder eintreiben. Aber die Firma musste ihn entlassen. Nach seinem Scheitern in der Politik und in der Literatur stand er nun auch beruflich vor dem Nichts.

→ Weiter mit Teil 8
„Nur Unruhe! Unruhe! sonst bin ich verloren“
Europamüde Abenteuer in Lateinamerika 1852-1855