5 Handelsreisender Brüssel

Teil 5:
„Heutzutage das interessanteste Thema der Welt“

Als Handelsreisender in Brüssel 1846-1848Nr. 101 Nr. 103

Im Juli/August 1845 besuchte Weerth in Brüssel den Freund Friedrich Engels und lernte dort auch Karl Marx kennen. Er beschloss, möglichst bald in die Nähe der beiden Freunde zu ziehen. Im April 1846 übernahm er eine Handelsvertretung für die in Bradford, Hamburg und Moskau ansässige Textilfirma Emanuel & Son. Von Brüssel aus tätigte er Kommissionsgeschäfte mit Wolle, Leinen und Seide in Belgien, Holland und Frankreich und erweiterte den Absatzmarkt seiner Firma in Westeuropa. Seine Geschäftsreisen führten ihn besonders oft nach Antwerpen und Lüttich, nach Amsterdam, Rotterdam und Utrecht – und zweimal auch nach Paris, wo er als „Revolutionstourist“ die Stätten der Französischen Revolution aufsuchte. Die Vorzüge seiner neuen Tätigkeit lernte er schnell zu schätzen: Freizügigkeit, selbstbestimmtes Arbeiten und eine jederzeit mögliche Verknüpfung seiner Geschäfte mit seinen Privatinteressen.

101
Place Royale Brussels
Stahlstich von A. Cruse nach einer Zeichnung von Joseph Fussell
B 8/11 W

102
Guide classique du voyageur en France et en Belgique
par Richard

  1. Auflage. – Paris: Audin, 1836
    K 654 (aus dem Nachlass Elise Kestner)

Jean Marie Vincent Audin (1790-1851), Bibliothekar in Paris, veröffentlichte unter dem Pseudonym Richard mehrere populäre Reiseführer. Sein Frankreich-Führer mit Belgien-Anhang wurde bis 1854 in 24 Auflagen gedruckt.

103
Belgien. Handbüchlein für Reisende, die sich leicht und schnell zurecht finden wollen
2., durchaus umgearbeitete Auflage. – Koblenz: Bädeker, 1843
K 1672
mit Stadtplan von Brüssel

Den „Baedeker“ muss man nicht vorstellen. Er ist seit fast 200 Jahren der klassische Reiseführer in den Händen gebildeter Reisender. Die Erstausgabe des Belgien-Baedekers erschien 1839 und enthält Stadtpläne von Lüttich, Löwen, Brüssel, Antwerpen, Gent, Brügge und Ostende.Nr. 104

Brüssel war zu dieser Zeit das kontinentale Zentrum der europäischen Emigration. Hier trafen politische Exilanten aus Deutschland, der Schweiz und Frankreich zusammen. Von hier aus wurde der internationale Zusammenhalt der revolutionären Bewegung organisiert. Für das von Marx und Engels 1846 gegründete „Kommunistische Korrespondenz-Komitee“ und für den 1847 neuorganisierten „Bund der Kommunisten“ übernahm Weerth Kurierdienste. Er eignete sich hervorragend dazu, da er nicht unter polizeilicher Beobachtung stand und sich als Handelsreisender frei bewegen konnte. Marx und Engels vertrauten ihm zwar ihre Kassiber an, bezweifelten allerdings seine unbedingte Loyalität – da er auf seiner Unabhängigkeit bestand, war er als Parteifunktionär völlig ungeeignet.

104
Karl Marx mit seiner Frau Jenny
Aus: Karl Vorländer: Karl Marx. Sein Leben und Werk
Leipzig: Meiner, 1929. – Frontispiz
Lg 1267dd

105
Das Kommunistische Manifest
Neue Ausgabe mit einem Vorwort der Verfasser
Leipzig: Verlag der Expedition des „Volksstaat“, 1872
soz 46/1

Der „Bund der Kommunisten“ beauftragte auf seinem in London Ende 1847 abgehaltenen Kongress Marx und Engels „mit der Abfassung eines für die Öffentlichkeit bestimmten, ausführlichen theoretischen und praktischen Parteiprogramms“. Das Kommunistische Manifest erschien zuerst im Februar 1848 im Druck.Nr. 107 Nr. 108 Nr. 109

106
Holland. Handbüchlein für Reisende, nach eigener Anschauung und den besten Hülfsquellen bearbeitet
2., durchaus umgearbeitete Auflage. – Koblenz: Bädeker, 1845
K 718

107
Rotterdam
Detailansicht mit großer Bootsszenerie
Stahlstich von B. Metzeroth nach einer Zeichnung von C. Reiss
B 8/21 W

„Rotterdam liebe ich sehr, die furchtbare Masse Schiffe mitten in den Straßen, die hellen Häuser, welche lustig durch die Lindenalleen schimmern, und das winzige Menschengesindel, was ernst und geschäftig durcheinanderpurzelt. … In Rotterdam wimmelt es von Deutschen, welche Rheinwein trinken, wie die Löwen räsonieren und mit Kaffee handeln.“ (Brief an die Mutter, 2./3.5.1846)

108
Amsterdam
Aussicht vom Cingel
Stahlstich
Hildburghausen: Bibliograph. Institut, ca. 1840
B 19 W (Neuerwerbung 2006)

„Amsterdam hat mir weniger gefallen; es ist eine alte, krumme, bucklige Kommerz-Stadt, in der alles schrecklich teuer und langweilig ist – überall Deutsche, die Handel treiben, – der eine mit Wein, der andre mit Hopfen, der dritte mit Garn – ein Krefelder bot mir sogar einen Ofen an; – eine Öfin wollte ich kaufen – er hatte aber keine vorrätig.“ (Brief an die Mutter, 2./3.5.1846)

109
Utrecht
Alte Gracht
Kolorierter Stahlstich von Johann Gabriel Friedrich Poppel nach einer Zeichnung von W. J. Cooke
B 8/22 W

„Das Geschäft in Holland gefällt mir schon, und 3-4 Wochen kann man das Leben dort schon aushalten; – viel länger aber nicht, und ich bin immer froh, wenn ich wieder in Brüssel bin.“ (Brief an die Mutter, 29.7.1847)

Die Geschäfte liefen zufriedenstellend und ließen ihm ab Ende 1846 wieder Zeit für literarische Arbeiten. Weerth arbeitete weiter an den „Englischen Reisen“, schrieb die „Humoristischen Skizzen aus dem deutschen Handelsleben“ und veröffentlichte diese sowie einige weitere Artikel in der Kölnischen Zeitung. Auch einen autobiographisch gefärbten Roman nahm er in Angriff, der eine Gesamtschau der deutschen Gesellschaft zur Zeit der Frühindustrialisierung sein sollte, aber unvollendet blieb. Seine zum größten Teil unveröffentlichten Gedichte wollte er nun gesammelt als Band herausgeben. Er gab den Plan jedoch auf und veröffentlichte nur einige Gedichte im Emigrantenblatt „Deutsche Brüsseler Zeitung“. Fest stand für ihn immer, dass die Literatur Nebenbeschäftigung sein und der Kaufmannsberuf an erster Stelle stehen sollte, und das nicht nur aus Gründen finanzieller Unabhängigkeit. Aus seinem Blickwinkel auf das Gegenwartsgeschehen stand fest: „Handel und Industrie ist wirklich heutzutage das interessanteste Thema der Welt.“Nr. 111

110
Le nouveau Conducteur de l’Étranger à Paris en 1839
par François Marie Marchant de Beaumont

  1. Auflage. – Paris: Moronval, 1839
    K 656

111
Geschichte der französischen Revolution
von M. A. Thiers
4 Bde. – Leipzig. Wigand, 1836
H 12364

Zur Vorbereitung seiner ersten Paris-Reise im Juni 1846 las Weerth die „Geschichte der französischen Revolution“ von Adolphe Thiers (1797-1873), zuerst erschienen 1823-1827. Dem Bruder Wilhelm teilte er mit: „wenn man das gelesen hat – und behalten, da kennt man in Paris jeden Fleck, jeden Stein – und braucht keinen Führer mehr.“

112
Histoire des dix Ans. 1830-1840
par M. Louis Blanc
4 Bde. – Bielefeld: Velhagen & Klasing, 1844-1845
G 2485

Zu Weerths vorbereitender Lektüre gehörte auch die „Geschichte der zehn Jahre 1830-1840“ des französischen Sozialisten Louis Blanc (1811-1882). Das Buch übt scharfe Kritik an der Politik Louis Philippes und charakterisiert sehr genau die sozialen Verhältnisse im vorrevolutionären Frankreich. Das Buch war ein Bestseller seiner Zeit.

113
Le Louvre achevé et la Nouvelle Rue de Rivoli
Lithographie von Philippe Benoist nach einer Zeichnung von [Honoré] Chapuis
Graphische Sammlung, Mappe 17

„Die Galerie des Louvre ist natürlich sehr schön; – ich besah sie im Fluge …“. (Brief an den Bruder Wilhelm, 2.7.1846)

114
Das Innere der Börse von Paris
Holzstich nach einer Zeichnung von Gustave Roux
Aus: Illustrirte Zeitung. – Leipzig. Nr. 1036 vom 9.5.1863, S. 316
B 20 W (Neuerwerbung 2006)

„Mittags um 2 Uhr verfügte ich mich auf die Börse. – Eine ungeheuere Säulenhalle, rings von Galerien umgeben, die mehr von Zuschauern als von Geschäftsleuten bevölkert ist. Unten bewegt sich die Handelswelt, schreiend, zankend, schachernd, fluchend, betend – und ein Getöse dringt Dir in die Ohren, als hätte man tausend Bienenkörbe losgelassen, die im wildesten Gesumme begriffen wären. Es ist ein häßliches, wüstes Schauspiel – alt und jung balgt sich um den Profit – wie wilde Tiere hausen sie miteinander …“. (Brief an den Bruder Wilhelm, 2.7.1846)

Im September 1847 veranstaltete die „Association Belge pour la Liberté commerciale“ in Brüssel einen Freihandelskongress, zu dem führende Ökonomen aus ganz Europa anreisten. Dabei ging es auch um die These, dass der Freihandel den Wohlstand der Arbeiterschaft nachhaltig befördere. Weerth hielt eine impulsive Rede, die in der Versammlung und in der berichterstattenden Presse Aufsehen erregte. Er bestritt, dass die freie Marktwirtschaft automatisch die soziale Lage des Industrieproletariats verbessere, da sie die Prinzipien des Kapitalismus eben nicht außer Kraft setze. Es müssten daher andere Wege gefunden werden, die Lebensverhältnisse der Arbeiter zu verbessern, andernfalls würden diese die Eigentumsverhältnisse auf revolutionärem Wege zu ihren Gunsten wenden. Die Rede machte Weerth mit einem Schlag international bekannt.

115
Brüssel. Rath-Haus
Stahlstich
Karlsruhe: Creuzbauer, o.J.
B 8/10 W

Im Brüsseler Rathaus hielt Weerth am 18. September 1847 seine Rede auf dem Freihandelskongress, die ihn international bekannt machte. Weerths aufsehenerregende Rede wurde in den führenden Zeitungen Deutschlands, Belgiens, Frankreichs und Großbritanniens auszugsweise abgedruckt, ausführlich zitiert oder in Leitartikeln behandelt.

116
Deutsche Brüsseler Zeitung
Nr. 71 vom 5.9.1847
Reprint: Z 1846a.2°

Die Deutsche Brüsseler Zeitung wurde im Januar 1847 von deutschen Emigranten gegründet. Unter dem Einfluss von Marx und Engels wandelte sie sich zum Parteiorgan des „Bundes der Kommunisten“. Mit der deutschen Märzrevolution stellte sie ihr Erscheinen ein.

Weerth steuerte gleich zu Anfang einige Gedichte aus seiner Englandzeit bei. Ab Juni 1847 lieferte er, immer ohne Namensnennung, auch neue Beiträge, etwa seine Gedichte „Die deutschen Verbannten in Brüssel“ und „Ein Abenteuer in Ostende“. Am 5. September 1847 erschien als Prosaskizze „An Bord der Glen Albyn. Ein Reise-Affenteuer (See-Charivari)“.

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„Diese Revolution wird die Gestalt der Erde ändern“
Märzrevolution 1848/1849