Ausstellung zum 150. Todestag von Georg Weerth. Teil 2
»Die einmal angefangene Reise durch das Leben reut mich nicht« Lehre in Elberfeld 1836-1840

»Die einmal angefangene Reise durch das Leben reut mich nicht, jeden Tag gewinne ich sie lieber und finde sie angenehmer als jede andre … denn unsre Korrespondenzen erstrecken sich bis über die Erde von einem Ende bis zum andern … «, schrieb Georg Weerth an seinen Bruder Wilhelm im Dezember 1837. Seit Herbst 1836 absolvierte er eine kaufmännische Lehre bei der Twist-, Seide- und Wollgarnhandlung J. H. Brink & Co. in Elberfeld. Die Firma unterhielt internationale Geschäftsbeziehungen und beschäftigte ihren Lehrling hauptsächlich als Briefkopisten.

20
Reisepass Georg Weerths

[Detmold, 1836]
Mit eigenhändiger Unterschrift Weerths
Fragment in zwei Teilen; rechte Blatthälfte fehlt
A 476 W

Um Lippe verlassen und in preußisches Territorium einreisen zu können, benötigte Weerth einen Reisepass. Dieser wurde 1836 ausgestellt und hatte für vier Jahre Gültigkeit.

Das Bergische Land war eine führende Region der Frühindustrialisierung. Die Städte Elberfeld und Barmen waren Zentrum der aufstrebenden Textilindustrie. Angelockt von Arbeitsplätzen in Spinnereien, Färbereien oder Webereien vervielfachte sich die Bevölkerung in kurzer Zeit. Wohnungsnot und katastrophale Lebensverhältnisse waren die Begleiterscheinung. Es grassierten Cholera und Tuberkulose; Hunger und Unterernährung gehörten zum Alltag.

21
Elberfeld

Stahlstich von L. Oeder nach einer Zeichnung von Ludwig Rohbock
B 8/2 W

Im Vergleich zum wirtschaftlich rückständigen Detmold war das hochindustrialisierte Elberfeld 1836 bereits eine Großstadt. Es besaß etwas zehnmal soviel Einwohner wie die lippische Residenz, nämlich etwa 35.000.

22
Johann Friedrich Knapp: Geschichte, Statistik und Topographie
der Städte Elberfeld und Barmen im Wupperthale
Iserlohn und Barmen: Langewiesche, 1835
H 13172 (aus der Gymnasialbibliothek Lemgo)

Der im Jahr vor Weerths Ausbildungsbeginn erschienene Band zur Ortskunde der Städte im Bergischen Land behandelt auch die regionale Wirtschaft und damit die Textilindustrie ausführlich.

Das vorliegende Exemplar widmete der Verfasser im Juni 1835 seinem „theuren Freunde Brandes“. Heinrich Karl Brandes (1798-1874) aus Salzuflen war Gymnasiallehrer in Elberfeld gewesen. 1824 wurde er Opfer des Unterdrückungsapparates der Restauration in Preußen. Aufgrund der Karlsbader Beschlüsse wurde er wegen „Mitwisserschaft an demagogischen Umtrieben“ rechtskräftig verurteilt und saß bis 1829 in Köpenick und Spandau ein. Ab 1833 war Brandes Rektor des Lemgoer Gymnasiums. Er wurde als Verfasser von Reisebeschreibungen bekannt.

23
Ludwig Henz: Bericht über Project und Vorarbeiten
zu der Anlage einer Eisenbahn von Elberfeld über Hagen nach Witten
Elberfeld: Lucas, 1836
St 7169.4° (aus der Regierungsbibliothek Minden)

Den Aktionären einer privaten Gesellschaft für den Eisenbahnbau von Elberfeld nach Witten legt das provisorische Eisenbahn-Comité hier das Resultat seiner Vorarbeiten vor. Der Bericht berücksichtigt die Belange der Bau- und Verkehrstechnik sowie alle Aspekte der Bau- und Betriebskosten und der Wirtschaftlichkeit. Weerth berichtete im Sommer 1838 vom Elberfelder Eisenbahnbau. Der Streckenabschnitt Elberfeld-Witten wurde allerdings erst 1847 begonnen.

Nr. 21
Nr. 25

Der Kaufmannslehrling Weerth bewegte sich in den Kreisen der wohlhabenden Kaufmannsfamilien. In seinem möblierten Zimmer stand sogar ein Flügel. Das Geschäftsleben gefiel ihm gut, von Anfang an hielt er es für den ihm gemäßen Beruf. Er nahm Nachhilfe im Rechnen und büffelte in seiner Freizeit Französisch und Englisch für die fremdsprachige Handelskorrespondenz. Im Juli 1838 berichtete er dem Bruder Wilhelm: „Meine freien Stunden fülle ich mit dem Studium der englischen und französischen Sprache aus, was mir auch fürs erste am meisten not tut, denn hierauf kommt später alles an.“

24
Friedrich Schiller: Der Kaufmann

In: Schillers sämmtliche Werke in zwölf Bänden
Stuttgart und Tübingen: Cotta, 1838
Bd. 1, S. 384
D 1341b-1

Schillers Gedicht bezeichnet prägnant den Wert des Handels für die Gesittung. Weerth erklärte nach einem Jahr Lehrzeit, er sehe „deutlich, daß durch Fleiß und Mühe ich auch dahin gelangen kann, wo so ein großer Kaufmann, wie Schiller ihn schildert, steht.“

25
Albert Franz Jöcher: Die Handelsschule.
Real-Encyklopädie der Handelswissenschaften … für Jünglinge, welche sich dem Handel und Fabrikwesen widmen wollen
3 Bde. – Quedlinburg und Leipzig: Basse, 1833-1835
St 8573 (aus der Regierungsbibliothek Minden)

„Allen Jünglingen, welche keine öffentliche Handelsschule besucht haben, und überhaupt Allen, die sich in den verschiedenen Zweigen der Handelswissenschaften gründlich belehren wollen“, bietet diese Enzyklopädie das gesamte theoretische Wissen. Weerth hat sich das Wissen anhand dieses oder anderer Bücher im Selbststudium erarbeitet.

26
Dominique Joseph Mozin: Neue Sammlung
französischer und teutscher … Handlungsbriefe, sowohl zur Bildung im kaufmännischen Briefstyle, als auch zum Uebersetzen in beide Sprachen bestimmt
5., verbesserte Aufl. – Stuttgart und Tübingen: Cotta, 1827
Ph 1601k (Geschenk des Medizinalrates Kirchner)

„Um Waaren aus fremden Ländern zu beziehen, oder dahin zu versenden, muß man die Sprache derselben mehr oder weniger verstehen. Der Erlernung derselben widmen junge Leute, welche die Handlung ergriffen haben, diejenigen Stunden, die sie ihren Geschäften abgewinnen können.“ Genau so ist Weerth verfahren. In Elberfeld nahm er ab Oktober 1836 Privatunterricht im Französischen. Das Lehrbuch des Abbé Mozin mit einer Vielzahl nützlicher Musterbriefe könnte Unterrichtsgegenstand gewesen sein.

27
August Ife: Der kleine Franzos
oder Sammlung der zum Sprechen nöthigsten Wörter und Redensarten, nebst leichten Gesprächen für das gesellschaftliche Leben. Französisch und deutsch
4. verbesserte und vermehrte Auflage. – Berlin: Amelang, 1830
Ph 1601l

Als internationale Wirtschaftssprache war Französisch damals noch weit wichtiger als Englisch. Das Wörterbuch des Berliner Sprachlehrers August Ife mit nützlichen Sätzen auch für den Textilhandel erschien bis 1882 in zwölf Auflagen.

28
Konrad Lüdger: Gespräche über die gewöhnlichsten Vorfälle
im Leben, Englisch und Teutsch; auf den practischen Gebrauch des angehenden Erlerners dieser Sprachen berechnet
Leipzig: Barth, 1823
Ph 2297

Im Juli 1838 schieb Weerth dem Bruder Wilhelm: „Im Französischen bin ich nun schon gottlob so weit vorgerückt, daß ich kleinere Korrespondenz wohl führen kann, doch das Englische macht mir nun desto mehr zu schaffen.“ Konrad Lütger, selbst gelernter Kaufmann, Übersetzer und Privatlehrer für Englisch in Hamburg und Dresden, veröffentlichte seit 1820 diesen hauptsächlich für Reisende bestimmten Sprachführer.

Engster Freund und Mentor in der Elberfelder Zeit wurde der elf Jahre ältere Hermann Püttmann (1811-1874), Redakteur der liberalen „Barmer Zeitung“. Selbst als Lyriker und Kunstschriftsteller tätig, förderte er früh Weerths schriftstellerisches Talent. Als Frühsozialist und Republikaner schärfte er auch dessen Blick für soziale Fragen. 1843 schrieb Weerth über ihn: „Was er mir schon im Leben genützt hat, kann ich ihm nicht vergelten. – Das wünsche ich einem jeden, daß er in seinem sechzehnten Jahre ihn zum Freund erhalte. – Ich hatte das Glück!“

29
Tscherkessenlieder

Hamburg: Hoffmann & Campe, 1841
A 811e.2.1 (Neuerwerbung 2006)

Anonym veröffentlichte Hermann Püttmann 1841 diese Sammlung von Gedichten. Die Tscherkessenlieder besingen den Freiheitskampf im absolutistischen Zarenreich. Das Kaukasusvolk der Tscherkessen diente Püttmann für den suggestiven Titel und das Motto „Wild und frei!“

30
Hermann Püttmann: Gedichte

Erste Gesammtausgabe
Herisau: Literarisches Institut, 1846
A 811e.1.1 (Neuerwerbung 2006)

Der Freund Püttmann musste in den schwierigen Zeiten des Vor- und Nachmärz vom Ertrag seiner schriftstellerischen und journalistischen Arbeiten eine zehnköpfige Familie ernähren. Er war für Weerth immer das Muster für die ungesicherte Existenz des „schriftstellernden Hungerleiders“, die er für sich nie in Betracht zog.

Ähnlich wie nach ihm Georg Weerth hatte der Detmolder Ferdinand Freiligrath (1810-1876) seine Heimatstadt als Fünfzehnjähriger verlassen, um in Soest eine kaufmännische Lehre zu beginnen. Von 1832 bis 1836 arbeitete er in Amsterdam. Im Mai 1837 nahm er eine Stelle als Korrespondent bei der Firma J. P. von Eynern & Söhne in Barmen an. Nach Detmold schrieb er: „Den kleinen Georg Weerth seh’ ich zuweilen in Elberfeld vor seinem Comptoir stehen – es scheint ein nettes, anstelliges Bürsch[ch]en zu sein.“ Ab Ende 1839 gehörte Weerth einem Literaturzirkel an, den Freiligrath in Barmen gegründet hatte. Dort trug er seine ersten Gedichte vor.

31
Ferdinand Freiligrath (1810-1876)

Lithographie von C. A. Schwerdgeburth nach einer Zeichnung von H. H. Schramm
FrS B 3

Im Dezember 1839 berichtet Weerth nach Detmold: „Seit einiger Zeit bin ich in ein Literaten-Kränzchen aufgenommen worden, welches Freiligrath seine Entstehung verdankt. – Es besteht aus 15 Doktoren, Poeten, Kaufleuten und Taugenichtsen, welche abwechselnd in ihren Kneipen zusammenkommen, sich über Literatur unterhalten und etwas zusammen lesen.“

32
„es scheint ein nettes, anstelliges Bürschchen zu sein“

Ferdinand Freiligrath an Louise Christiane Grabbe
Barmen, [Juli] 1837
GA Ms 405

33
Ferdinand Freiligrath: Gedichte

Stuttgart und Tübingen: Cotta, 1838
FA 5.1838

Als Weerth und Freiligrath in Barmen zusammentrafen, hatte Freiligrath sich bereits einen Namen als Lyriker gemacht. Seine Gedichte erschienen in Sammlungen und Zeitungen. Im Klassiker-Verlag Cotta erschien 1838 eine erste Buchausgabe von Freiligraths Gedichten.

34
Ferdinand Freiligrath

Sandsteinbüste von Carl Cauer
ohne Signatur

Früh schon stand Weerths Entschluss fest, nach Ende der Lehrzeit nicht länger seine „Jugend in dem Dampfe einer Fabrikstadt zu verschlummern.“ Als erstes bewarb er sich in Buenos Aires, dann in Mailand. Zuletzt landete er aber doch nicht weit von Elberfeld entfernt: im Kölner Kontor der Firma Graf Meinertzhagen.

Weiter mit Teil 3. „Politische Nullitäten“ und rheinischer Frühkapitalismus
Berufstätigkeit in Köln und Bonn 1840-1843