Benjamin Bilse (1816-1902)
Vom „Stadtmusicus“ zum gefeierten Dirigenten
Eine Ausstellung der Benjamin Bilse Gesellschaft in Kooperation mit der Lippischen Landesbibliothek
vom 3. November 2005 bis zum 13. Januar 2006
Einführung
von Jochen Georg Güntzel
Benjamin Bilse gehörte in Deutschland schon seit den 1840er Jahren zu den Dirigenten, die von sich reden machten. In seiner Heimatstadt Liegnitz, einer kleinen schlesischen Provinzstadt, fand er jedoch zunächst als „Stadtmusicus“ nur wenig Beachtung. Zudem wurde er herzlich schlecht honoriert, denn eigentlich gehörte zu seinen Aufgaben, bei Veranstaltungen des Magistrats wie z.B. Einweihungen und Begrüßungen, oder bei Umzügen, Hochzeiten und Beerdigungen mit seinen „Gehülfen“, den „Stadtpfeiffern und Hautboisten“, die er aus eigener Tasche zu besolden hatte, zu spielen.
Der ehrgeizige und begabte Bilse, ein sehr guter Geiger, der auch noch Harfe, Horn und Trompete spielte, hatte von Anfang an den ziemlich abenteuerlichen Plan, aus der kleinen Schar nebenamtlicher Musiker, die ihm als „Stadtmusikchor“ zur Verfügung stand, einen leistungsfähigen, großen Klangkörper zu formen. Ein solches Orchester aus Berufsmusikern sollte in der Lage sein, bei Opernaufführungen mitzuwirken und anspruchsvolle Kammer-, Symphonie- und Oratorienkonzerte anzubieten, ohne die heiteren Seiten der holden Frau Musica, musikalische Unterhaltungen und „Reunions à la Strauss und Lanner“, mit denen die Kapelle finanziert werden musste, zu vernachlässigen. Diese Art Musik kannte er sehr gut, denn als er in Wien Schüler des berühmten Violinlehrers Professor Joseph Böhm war, hatte er auch in den Orchestern von Strauss (Vater) und Lanner gespielt. Wie sehr diese Musiker und ihre Kompositionen seinerzeit bewundert wurden, lässt sich daraus ersehen, daß dem Sarg von Joseph Lanner 60.000 Wiener aus allen Schichten der Bevölkerung folgten.
Die Wege der Familie Strauss und Bilses kreuzten sich mehrmals. Anläßlich der Weltausstellung in Paris 1867 gaben Johann Strauss (Sohn) und Bilse gemeinsam Konzerte, in denen Strauss die „Bilsekapelle“ dirigierte. Über diese vielbewunderte Kapelle schrieb er: „[…] welche die vorzüglichste in ganz Deutschland ist und klassische Musik mit der höchsten Perfektion executirt“. Strauss fühlte sich allerdings bemüßigt hinzuzufügen, daß diese Kapelle, vermutlich war es die beste, die er selbst je dirigiert hat, „[…] jedoch im Genre der Tanzmusik nicht das leistet, was man in Wien gewöhnt ist – nämlich nicht den Chic besitzt für -Walzer, Polka etc. […] Ich sollte nämlich den Musikern das beibringen – was ihnen fehlte.“
Warum ist es ausgerechnet dem jungen Musiker Benjamin Bilse gelungen, eines der besten Orchester der damaligen Zeit zu schaffen? Die Bedingungen, unter denen Bilse und seine Musiker in der Provinzstadt Liegnitz, die damals etwa 12.000 Einwohner zählte, spielen mussten, waren alles andere als ideal. Die Stadtkapelle verfügte weder über einen Proberaum noch über angemessene Konzertsäle und musste daher in den Gärten und verräucherten Sälen von Gastwirtschaften spielen. Obwohl die Zahl der Bildungsbürger sehr klein war, hatte Bilse den Mut, regelmäßig Orchesterkonzerte mit anspruchsvollen Programmen anzubieten. Damit konnte er sein „Bilseorchester“ an neue Aufgaben heranführen und qualitativ immer mehr verbessern. Als 1844 die Eisenbahnstrecke Breslau – Liegnitz eröffnet wurde – zu dieser Gelegenheit komponierte der den „Liegnitz-Breslauer-Eisenbahn-Dampfgalopp“, – hatten er und seine Musiker den Mut, die Bahn zu benutzen, um auch in anderen Städten und „im Gebirge“, gemeint ist das schlesische Riesengebirge, Konzerte zu geben.
„Erfüllt von der Überzeugung, daß […] die Pflege der klassischen Musik […] zur sittlichen Veredelung“ beiträgt, bemühte sich Bilse unter „Hintansetzung […] eigenen Interesse[s]“ immer mehr Symphonie- und Kammerkonzerte zu geben oder, wenn dieses nicht möglich war, anspruchsvolle Musik in die mehr unterhaltenden Konzertprogramme zu schmuggeln. Da es in Schlesien kein Konservatorium gab, es andererseits aber nach der Einführung der Gewerbefreiheit zu einer Krise für die Musik gekommen war, standen nicht genügend ausgebildete Orchestermusiker, aus denen er seine Kapelle hätte verstärken können, zur Verfügung. Bilse ließ sich durch diese Umstände jedoch nicht entmutigen, sondern bemühte sich, talentierte Jungen, häufig stammten sie aus armen Familien, selbst auszubilden. Er selber hatte in einer fünfjährigen Lehrzeit bei dem Stadtmusicus die wichtigsten Instrumente zu spielen und damit Fähigkeiten erlernt, die ihm als Dirigenten und Komponisten von größtem Nutzen waren. Die überwiegend sehr jungen Musiker der Bilsekapelle trugen übrigens reichlich lange Haare, Vorbilder waren vermutlich Paganini und Liszt. Wie sie musizierten, können wir von dem Komponisten und Musikschriftsteller Peter Cornelius erfahren. Über ein Konzert in München schrieb er: „Die Konzerte von Bilse führen uns vor ein Orchester von Jünglingen, von einem Manne geleitet. Es kling etwas Unbezahlbares, Unpensionierbares aus dem feurigen energischen Strich dieser jugendlichen Quartettschar.“
Dem jungen Benjamin Bilse, er war gerade Anfang 30, war etwas gelungen, was die Fachwelt schon zu seiner Zeit in Erstaunen versetzte: Er hatte in wenigen Jahren und ohne jegliche finanzielle Hilfe ein hervorragendes Orchester schaffen können. Im Jahre 1847 konnte er es wagen, mit seinen hochmotivierten Musikern sogar in Berlin Konzerte zu geben. Er hatte erfahren, daß der Kapellmeister Joseph Gung’l, der in Berlin bekannt und beliebt war, beabsichtigte, mit seiner Kapelle mehrere Wochen auf Reisen zu gehen und wollte in dieser Zeit dessen Platz einnehmen. Die Konzerte wurden ganz große Erfolge. Ein (unbekannter) Rezensent schrieb, dass die „Leistungen […] namentlich die Ausführung der Beethoven´schen D-dur-Symphonie […] als wahrhaft ausgezeichnet von sämmtlichen Zuhörern anerkannt wurden“. Auch Ludwig Rellstab, ein bekannter Musikschriftsteller, zeigte sich beeindruckt: „Die Kapelle ist sehr wohl eingeübt und ihre Leistungen müssen, wenn man die Kräfte einer Provinzstadt bedenkt, Erstaunen erregen […]. Das schwierige Werk (Sinfonie in B-Dur von Beethoven) wurde mit großer Präcision, oft mit feinen Schattierungen ausgeführt […]. Wir erfreuten uns auch des Publikums, das mit gespanntester Aufmerksamkeit und Stille zuhörte […], um nur dem Kunstwerk zu lauschen“. Die Kapelle musste mehrere Stücke, darunter Bilses „Sturm-Marsch-Galopp“, bis zu vier Mal wiederholen.
Sehr beeindruckt von den Leistungen der Kapelle muss auch König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen gewesen sein, denn die Kapelle wurde eingeladen, im Potsdamer Schloss Sanssouci zu spielen. Auch hier, vor den „allerhöchsten“ Herrschaften, musste Bilses „Sturm-Marsch-Galopp“ mehrmals wiederholt werden. Dieser Galopp eroberte innerhalb weniger Monate die damals bekannte Welt von St. Petersburg bis Chicago und von Oslo, das damals noch Christiana hieß, bis Australien, und wurde mehr als 30 mal nachgedruckt.
Wie populär seinerzeit einige Melodien werden konnten und wie sie sich manchmal auf seltsamen Wegen verbreiteten, soll am Beispiel eines Marsches aus der Feder des oben genannten Joseph Gung’l aufgezeigt werden. Als auf Friedrich Wilhelm IV. ein Attentat von einem Bürgermeister Tschech verübt wurde, kamen Spottverse auf, die etwa so lauteten:
Sagt an, war das nicht frech,
Dass der Bürgermeister Tschech
Hat geschossen auf ein Haar
Nach dem geliebten Königspaar?
Schoss der hohen Landesmuter
Durch den Rock ins Unterfutter.
und – obwohl obrigkeitlich verboten – munter nach der Melodie eines Festmarsches von Gung’l gesungen wurden. Die veränderte Melodie dieses Liedes wurde dem später entstandenen und in Lippe wohlbekannten Lied „Als die Römer frech geworden“ unterlegt.
Bilse, der in seinen populären Konzerten viele Stücke von Gung’l und natürlich noch viel mehr von Johann Strauss gespielt hat, gehörte mit seinen eigenen Quadrillen, Walzern, Polkas und Märschen („Komponiert habe ich nur Kleinigkeiten, die selben machen jedoch Glück und finden viel Verbreitung“) zu den bekannteren Komponisten dieses Genres. Diese Stücke waren seinerzeit so beliebt, dass fast alle seiner Kompositionen früher oder später für Klavier, aber auch für Klavier vierhändig, Klavier und Geige u.a.m., transkribiert wurden. Die Zuhörer kauften die Noten gern schon im Konzertsaal. Das Rundfunkorchester des WDR hat unter der Leitung von Christian Simonis (Göttingen) im Januar dieses Jahres ein wundervolles Konzert mit Kompositionen Bilses gegeben, das in WDR 3 live gesendet wurde. Eine CD mit 14 Stücken soll in Kürze produziert werden. Für das Konzert konnte die Lippische Landesbibliothek, die einen ganz erstaunlich großen Bestand an Musikalien hat, darunter sogar als Seltenheit eine Bearbeitung des „Sturm-Marsch-Galopps“ für Gitarre, einige Orchesterstimmen zur Verfügung stellen.
In der Ausstellung soll versucht werden, den Weg der „Bilse“schen Kapelle“, der sie gewissermaßen von den Niederungen der Gärten und Etablissements schlesischer Provinzstädte in die Säle und Kunsttempel der Bürgerschaft in Amsterdam, Bielefeld, Bremen, Brüssel, Cöln, Dresden, Frankfurt, Leipzig, München, Osnabrück, Pawlowsk (bei St. Petersburg), Paris, Riga und Warschau, ja sogar in die Schlösser von Potsdam, Sagan, Erdmannsdorf (im Riesengebirge), Fürstenstein, Berlin und Zarskoje Selo (bei St. Petersburg) führen sollte, ein wenig nachzuzeichnen.
In einem größeren Teil Ausstellung dreht sich erwartungsgemäß vieles um Musik und um die Musiker, die sie seinerzeit gespielt haben. Unter den Kurzbiografien und Porträts der Musiker wird der interessierte Besucher eine Reihe von Namen entdecken, die heute noch wohlbekannt sind. So gehörten zu den Orchestermusikern, die Mitglieder der Kapelle waren, die weltberühmten Geiger Karl Halir, Friedrich Hegar, César Thomson und Eugène Ysaye, die Cellisten Antoine Hekking, Cornelis Liegeois, Hans Wihan und Leopold Grützmacher, die Trompeter Theodor Hoch und Hugo Türpe, die Flötisten Joachim Andersen und Jean-Baptiste Sauvlet, sowie die Harfenistin Elise Jansen. Viele dieser Orchestermusiker waren auch Komponisten. Zu den Virtuosen, mit denen Bilse gespielt hat, gehörten die Violinisten Wilhelmine Neruda, Ferdinand David, Wilhelm Heinrich Ernst, Joseph Joachim, Pablo Sarasate, Henri Vieuxtemps und die Pianisten Anette Essipoff, Camille Saint-Saëns und Anton Rubinstein und viele, viele andere mehr.
Das wichtigste für die Konzerte der Bilse’schen Kapelle bildeten natürlich aber die Besucher, denn ohne deren Enthusiasmus, ihre Hervor-, da capo- und Bravorufe, hätte es der „wackere“ Bilse in Berlin, wo er von 1867 bis 1885 wirkte, nicht zu einer beinahe legendären Popularität bringen können. Da die Eintrittspreise erschwinglich waren, strömten gerade junge Leute wie Gerhart Hauptmann und Hermann Sudermann, Literaten wie Friedrich Nietzsche oder Julius Stinde („Familie Buchholz“), Musiker (Cjaikowski, von Bülow, Paderewski) und Musikkritiker immer wieder in die „Bilsekonzerte“, um „Classiker“ und die so manches Mal umstrittenen „Novitäten“ kennenzulernen. Für die Ausstellung konnten viele Zeugnisse dieser Concertbesucher, die geeignet sind, diese interessante Zeit besser zu verstehen, zusammengestellt werden. Damit sich der Besucher der Ausstellung eingehend informieren kann, wurde ein ungewöhnlicher Weg beschritten: Neben Bildern und Dokumenten, die meist in den Vitrinen präsentiert, erläutert und in einem ersten Durchgang bemerkt werden wollen, wurden zu einzelnen Themen mehr als 40 Hefte zusammengestellt, in denen jeweils ein besonderes Thema (z.B. Aufführungen von zwölf Haydn-Symphonien in einer Konzertsaison oder Oratorien) in kommentierten Zeugnissen ausführlicher dargestellt wird.