Ausstellung

Fossati:

Hagia Sophia

Wer ist das, die heilige Weisheit?

Gaspare Fossatis Ansichten der Hagia Sophia

Erhart Kästner zum 100. Geburtstag am 13. März 2004

Ausstellung der Lippischen Landesbibliothek
vom 13.3. bis zum 18.6.2004

von Julia Freifrau Hiller von Gaertringen

Die Hagia Sophia, die Kirche der „heiligen Weisheit“ in Konstantinopel, ist eines der geschichtsträchtigsten Bauwerke der Menschheit. Sie wurde im Auftrag des Kaisers Justinian in den Jahren 532-537 auf den Grundmauern einer Anfang des 5. Jahrhunderts entstandenen fünfschiffigen Basilika erbaut, die im Januar 532 während politischer Unruhen abgebrannt war. Der Kaiser ließ innerhalb von 40 Tagen den Schutt abtragen und legte selbst den Grundstein für einen Neubau. Für diesen Bau, der das prächtigste Gotteshaus seit der Schöpfung sein sollte, verpflichtete er die ionischen Architekten Anthemios von Tralles und Isidor von Milet. Sie leiteten die Bauarbeiten, für deren Durchführung zehntausend Arbeiter fünf Jahre und zehn Monate benötigten.

Entscheidend für den Weltruhm der Hagia Sophia war ihre Kuppel und die durch deren Ausmaße erzeugte Raumwirkung. Schon der zeitgenössische Historiker Prokop rühmte, sie scheine wie eine goldene Kugel am Himmel zu hängen. Die große Zentralkuppel, die von vier mächtigen Pfeilern gestützt wird, hat einen Durchmesser von 33 m. Sie stürzte schon 558 nach einem Erdbeben ein, wurde aber umgehend neu errichtet, und 563 konnte die Kirche bereits neu geweiht werden. Immer wieder war sie durch Erdbeben von Einsturz bedroht und wurde deshalb mehrfach durch Strebepfeiler von außen verstärkt und gesichert. Sie war die Krönungskirche der oströmischen Kaiser und diente mehr als neun Jahrhunderte als christliches Gotteshaus.

Nach der Eroberung Konstantinopels durch die Türken im Jahr 1453 wurde die Hagia Sophia in eine Moschee umgewandelt. Die Umwidmung zur Hauptmoschee des Osmanischen Reiches verbildlichte den Triumph des Islam über das Christentum, daher wurden zunächst auch keine wesentlichen Änderungen vorgenommen. Sogar ihren Namen behielt sie: als Ayasofya Moschee blieb sie noch fast fünfhundert Jahre in religiösem Gebrauch. Allerdings wurde noch zu Zeiten Mehmed des Eroberers an der Südostecke ein Minarett errichtet, weitere drei Minarette kamen in der folgenden Zeit hinzu. Der mit Wandverkleidungen aus poliertem farbigem Stein und mit Mosaiken zu christlichen Bildthemen ausgestattete Innenraum blieb zum größten Teil unverändert. Erst Anfang des 17. Jahrhunderts wurden die Kuppeln neu ausgemalt und die Wände mit einer Putzschicht bedeckt. Die Mosaiken außerhalb des eigentlichen Sakralraums blieben noch bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts sichtbar.

Sultan Abdülmecid, der in den Jahren 1839-1861 das Osmanische Reich regierte, ordnete 1847 umfassende Sanierungsarbeiten für das baufällig gewordene Gebäude an. Er beauftragte damit den Schweizer Architekten Gaspare Fossati, der die Arbeiten gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Giuseppe bis 1849 ausführte. Das Bemühen der Brüder Fossati richtete sich auf die Erhaltung der gesamten historischen Bausubstanz, nicht etwa auf die Restaurierung eines vermeintlich authentischen Originalzustands. Sie richteten die nach außen geneigten Säulen der Empore wieder auf und restaurierten die Gewölbe, rissen Anbauten ab, um auch den Außenbau wieder voll zur Wirkung kommen zu lassen, und setzten das Innere des Sakralraums wieder in Stand. Dabei legten sie auch die unter dem Mörtel verborgenen byzantinischen Mosaiken frei und restaurierten sie; nach der Sicherung und Bauaufnahme wurden die Mosaiken aber wieder überdeckt. Auch eine Sultansloge baute Fossati seinem Auftraggeber ein. Die sehr umsichtigen und behutsamen Restaurierungsarbeiten der Brüder Fossati haben damals die Hagia Sophia vor dem sicheren Verfall gerettet.

Sultan Abdülmecid (reg. 1839-1861)

Gaspare Fossati (1809-1883) stammte aus Morcote im Tessin. Er studierte Architektur in Venedig und Mailand und widmete sich dann dem Studium der baulichen Altertümer in Rom. 1833 ging er nach St. Petersburg und war dort ab 1836 am Zarenhof angestellt. 1837wurde er nach Konstantinopel geschickt, um dort nach eigenen Plänen in klassizistischem Stil den Neubau der russischen Botschaft zu erstellen. 1845 trat er in die Dienste des Sultans über und leitete die Restaurierung der Hagia Sophia. Gleichzeitig baute Fossati unmittelbar neben der Sultansmoschee den Neubau der ersten Istanbuler Universität. Im Anschluss an diese Projekte blieb er in der Stadt, baute Kirchen, private Villen und öffentliche Gebäude für das Osmanische Reich.

Gaspare Fossati (1809-1883)

1852 veröffentlichte Fossati ein Tafelwerk mit 25 kolorierten Zeichnungen der Hagia Sophia. Es ist seinem Auftraggeber, dem Sultan Abdülmecid, gewidmet. Die Bleistiftzeichnungen wurden von dem belgischen Künstler Louis Haghe (1806-1855) lithographiert, der als ein Meister seines Fachs galt, weil er Stil und Ausdruck einer künstlerischen Vorlage ebenso wie kleinste Details in seine Reproduktionen zu übertragen verstand. Der kostspielige Band wurde in London von der Kunsthandlung P. & D. Colnaghi verlegt. Er ist eines der prächtigsten Vedutenwerke des 19. Jahrhunderts und rückte die Hagia Sophia erstmals wieder ins Bewusstsein Europas.

Die gezielte Lichtführung und die atmosphärische Dichte verleihen den Blättern einen besonderen Reiz. Bei näherem Hinsehen fallen auf vielen Tafeln perspektivische oder proportionale Unstimmigkeiten auf, die vermutlich beabsichtigt waren, um alle Details veranschaulichen und die Komplexität des Raumes bildlich einfangen zu können. Manche Außenansichten erinnern mit ihrer perspektivischen Verzerrung an Weitwinkelaufnahmen. Die Figuren sind im Verhältnis zur Architektur viel zu klein dargestellt, was aber den Eindruck des Monumentalen steigert.

Das Exemplar der Lippischen Landesbibliothek hätte der mit knapper Kasse haushaltende Bibliotheksdirektor Otto Preuß sicherlich nicht für sein Haus erworben. Er vermerkte allerdings im vorderen Buchdeckel: „Im J[ahr] 1853 für die öffentl[iche] Bibl[iothek] angeschafft auf Befehl Serenissimi“.

Das ist aufschlussreich, denn der seit 1851 das Land Lippe regierende Fürst Leopold III. (1821-1875) hatte 1843/44, noch als Erbprinz, eine Bildungsreise nach Italien gemacht und im Mai 1844 per Schiff einen Abstecher nach Konstantinopel unternommen. Während seines vierzehntägigen Aufenthaltes dort hatte er alle Moscheen besichtigt, war zur Audienz beim Sultan Abdülmecid gebeten und von diesem zu einem großen Diner eingeladen worden. In der Hagia Sophia hatte er am 15. Mai an einem türkischen Gottesdienst teilgenommen, obwohl Christen dazu eigentlich nicht zugelassen waren. Das ganz persönliche Interesse an der Hagia Sophia und den nach seiner Reise ausgeführten Restaurierungsarbeiten haben Leopold III. veranlasst, das Tafelwerk für die Fürstliche Bibliothek anzuschaffen.

Fürst Leopold III. zur Lippe (1821-1875)

Die Regierung der neuen Türkischen Republik setzte 1926 eine Baukommission ein, die den Zustand des Gotteshauses wiederum gründlich untersuchen sollte. Ab 1932 legten dann amerikanische Archäologen die Mosaiken erneut frei. Auf Anordnung Kemal Atatürks wurde die Hagia Sophia 1935 zum Museum erklärt. Nach 1400 Jahren endete damit ihre Geschichte als Kultraum.

Die Lippische Landesbibliothek Detmold zeigt Fossatis Hagia Sophia bis zum 18. Juni 2004. Die Ausstellung erinnert an den 100. Geburtstag des Schriftstellers Erhart Kästner (1904-1974), der Anfang der siebziger Jahre, nach dreißig Jahren des Nachdenkens über das Verhältnis von Antike und Christentum, auch nach Konstantinopel kam und der Stadt sein letztes Buch, „Aufstand der Dinge“, gewidmet hat. Einige Seiten dieses Buches befassen sich mit den Ansichten, die Fossati von der einstigen byzantinischen Reichskirche und späteren osmanischen Reichsmoschee angefertigt hat.

Gotteshaus gottlos

Als in der Mitte der dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts die Nachricht eintraf, Ata-Türk, der Türkenvater, habe sich dazu entschlossen, die Moschee, welche merkwürdiger Weise immer noch mit dem griechischen Namen der heiligen Weisheit, also Aja Sofja benannt war, als Moschee aufzugeben, sodaß sie von nun an Museum sei, hielt man das für einen Fortschritt. Man wird anderer Meinung, wenn man das Glück hat, einen seltenen Band größten Formats in die Hand zu bekommen, der im Jahr 1852 in London erschien und der fünfundzwanzig farbige Lithografien des Gotteshauses enthält, Ansichten, die Gaspare Fossati gemacht hat. Nämlich, der Tessiner Architekt aus der russischen Botschaft in Konstantinopel, Fossati, erhielt in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts vom Sultan den Auftrag, die alte Christenkirche, die damals schon vierhundert Jahre lang Moschee und baufällig war, wiederherzustellen. Es muß für den jungen Architekten die Aufgabe seines Lebens gewesen sein, und er muß den Bau über alle Maßen geliebt haben. Die fünfundzwanzig sehr großen und genauen Lithografien sind Zeugen. In fünfundzwanzig Einblicken und Durchblicken nahm er den einzigen Raum auf, bei wechselndem Standort, in immer neuen Anläufen, so wie ein Lobgesang vielstrofig immer dasselbe sagt und sich niemals genug tut.

Nun aber die Hauptsache. Leicht könnte es so gewesen sein, dass dieser Fossati, ein architektonischer Fachmann, Statiker, den heiligen Raum objektiv, wie wir zu sagen pflegen, also wissenschaftlich, historisch, als Kunsthistoriker aufnahm. Das aber, das eben tat der junge Mann nicht. Vielmehr, der Ruhm dieser Lithografien liegt darin, daß Fossati den Hauch, der durch die mächtige Höhle wie Schwaden zog, wahrnahm, und daß er ihn wiederzugeben vermochte: die Andacht, das Numen. Die Innigkeit, möchte man sagen, würde die Wahl dieses Wortes einem Schriftsteller nicht ein Mehrfaches an Mut abfordern als der Gebrauch gewisser Worte, deren Aufnahme ins Schrifttum, da sie ohnehin Jeder kannte, weniger verändert als man annahm.

Dieser Mann muß gefühlt haben, daß die Aja Sofja auch als Moschee noch dem Gott diente, dem sie vom Jahr 537 bis auf seine Zeit und dann noch bis zum Jahr 1935, also vierzehn Jahrhunderte lang, ohne die Unterbrechung eines einzigen Tages gedient hat: demselben. Diese Steindrucke zeigen, was man auch jetzt noch in jeder anderen Moschee sehen kann: hingerissene Beter, Gottversunkene, und es ist nicht zu vergessen, daß der Gott, den sie anbeten, derselbe Gott ist wie der, den wir, falls wir beten, anbeten: wenn auch nicht der Gott des Paulos, so doch der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs.

Sodaß es verkehrt wäre, die katastrofale Zäsur in der Geschichte dieser Kirche ins Türken-Jahr 1453, gewiß ein Jahr des Unheils, zu setzen. Wohl ist damals der Dom aus Christenglauben in den Glauben der Moslim übergegangen; wohl geschah damals ein weltgeschichtliches Unglück. Doch was die Kirche der Hagia Sophia anlangt: das Skalpell, das viel tiefer eindrang als jeder Einschnitt vorher, setzte an, als die Kirche sich leerte. Leer wurde. Die Kirche der Hagia Sophia, im Jahr 1935 verstarb sie. Museum. Nun war wichtiger als alles: die Forschung. Nun war diese Kirche ein Gegenstand. Nun war sie Kunstgeschichte. Nun war sie für den Weltverbrauch der Reisenden da, die, während sie Welt verbrauchen, sich mitverbrauchen, ohne es wahrzunehmen. Denn die unheimlichsten Verluste sind die, die nicht mehr gefühlt werden.

Erhart Kästner: Aufstand der Dinge. Byzantinische Aufzeichnungen. Frankfurt am Main, 1976, S. 15-18

Also was ist das, die Heilige Weisheit?

Freilich ein Knäuel schwerster theologischer Fragen. Die Weisheit Gottes? Aber damit wäre gesagt, daß es die Weisheit von Menschen nicht wäre, niemals und eben gerade ganz gewiß nicht. Die Weisheit Gottes, das wäre die Unerforschlichkeit Gottes, wie sie Hiob, Einer für Alle, erfuhr. Wäre möglich, daß der Unerforschlichkeit Gottes, dem demütigsten aller Demut-Gedanken, ein Bau erbaut wurde, der unter anderem auch stolz ist? Schön wäre es, wenn man Demut als Baugedanken annehmen könnte. Aber war es der Gedanke des allerchristlichsten Kaisers? Des Weltherrschers? Des Nachfolgers der Cäsaren, der es übernommen hatte, im Namen Christi zu herrschen, zu handeln, Entschlüsse zu fassen, da das verheißene Ende aller Dinge nicht kam?

Es mußte ihm fern liegen, so fern, wie es unserer Neuzeit fernläge, deren einziges Glaubensbekenntnis die Alles-Erforschlichkeit ist. Die Unerforschlichkeit Gottes könnte beschwiegen, kaum gebaut werden.

[…] Als klassische Stelle für Weisheit müssen die Verse zu Beginn des Ersten Korinther-Briefs aufgefaßt werden. An diese Text-Stelle muß gedacht worden sein, als man sich, ungewöhnlicher Weise, schon zu des Kaisers Konstantinos Zeit und dann wieder, bei des Justinianus Neubau entschloß, der Haupt-Reichs-Kirche, der Kathedrale des Römischen Reiches, den Namen der Hagia Sophia zu geben. […]

Paulos schreibt: »Christos ist uns von Gott zur Weisheit gemacht«; es gibt keine andere Weisheit. Nur die. »Christos ist die göttliche Weisheit.« So wird unsere Weisheit zum Schweigen gebracht. Paulos zieht zum Zeugen den Profeten Jesaias an: »Ich will die Weisheit der Weisen zu nichts machen, spricht Jahwe, und die Klugheit der Klugen will ich verwerfen.« An die Stelle der Weisheit von Menschen wird also der Glaube an Christos gesetzt. Christos ist die Heilige Weisheit, die Hagia Sophia.

Gott verachtet die Weisheit der Menschen, sagt Paulos; Gott gibt nichts auf das Wissen. Die Weisheit der Menschen ist Sache der schlechten Welt, die ohnehin im Verfall ist, denn die letzten Dinge sind nah. Die Weisheit dieser Welt ist nichtig; so nichtig ist sie, wie die Herrschaft dieser Welt nichtig ist. Denn diese Welt ist verfallen. Verfallen.

Das sind Sätze, in denen brunnentief Anarchie schlummert. Es sind Worte, nach denen gelebt werden kann, so lang Gesetz nicht gesetzt, Gesetzesbruch nicht gestraft, Amt nicht geamtet, Betrieb nicht geleitet, Land nicht regiert, Entschluß nicht beschlossen, Werk nicht gewerkt und Tat nicht getan werden muß. Es ist eine Streik-Parole. So kann eine Wartezeit hingebracht werden; es ist eine Losung des Wartens. Aber kann man immer warten?

Es ging nicht und geht nicht. Paulos, christlicher Untergrund, hatte gut reden. Denn es war ja das Reich noch da, hielt noch, war noch mit seinem Gesetz, seinem Recht da und Paulos zögerte nicht, das Recht anzurufen, als er in Not kam.

»Mein Reich ist nicht von dieser Welt« hatte Christos, die Weisheit Gottes, gesagt. Doch der Kaiser Konstantinos, ganz gewiß ein Großer, ernannte Christum zum Weltherrn, zum Weltkaiser. Christos Pantokrator; ein ungeheuerliches Kopfüber. Und der Kaiser, nun auf einmal, war Vicarius Christi. Christus praesens. Also Mit-Regent Christi. Also auch Mit-Inhaber der Hagia Sophia, der göttlichen Weisheit. Also auch Mit-Inhaber des Zornes Gottes. Also auch Mit-Weiser und Mit-Richter.

[…] Damals, der Gedanke Mit-Regent, Mit-Richter, sogar Mit-Weiser Christi zu sein, war offenbar der Versuch, das Elend des Herrschens niederzuhalten, indem man Macht anband an eine Macht, die nicht von dieser Welt war. Es war offenbar ein Teil des großen Gedankens, der sich jetzt zurückzieht: Sinn könne nur von einem Außerhalb dieses Lebens in dieses Leben einfallen.

Erhart Kästner: Aufstand der Dinge. Byzantinische Aufzeichnungen. Frankfurt am Main, 1976, S. 38f., 51ff.