September im Jahr der Bibel:
Die Toussain-Bibel des Grafen Friedrich Adolf zur Lippe aus dem Jahre 1693 (Th 86.2°)
Die Lippische Landesbibliothek nimmt das „Jahr der Bibel 2003“ mit seinen vielfältigen Aktivitäten in Lippe und deutschlandweit zum Anlass, allmonatlich ein herausragendes Exemplar des Buches der Bücher aus ihrer reichhaltigen Bibelsammlung zu präsentieren.
Von Detlev Hellfaier
Aus dem Besitz des Grafen Friedrich Adolf zur Lippe († 1718) stammt eine großvolumige Toussain- oder – latinisiert – Tossanus-Bibel, so benannt nach ihrem Glossator und Kommentator, dem reformierten Heidelberger Theologen Paul Toussain oder Paulus Tossanus; sie befindet sich heute unter der Signatur Th 86.2° in der Lippischen Landesbibliothek.
Wie die streng lutherisch ausgerichtete Bibel der Grafen Otto und Casimir zur Lippe-Brake von 1606 und die Genfer Hugenotten-Bibel der Gräfin Amalie zur Lippe von 1647, der Mutter Friedrich Adolfs, trägt auch diese Ausgabe der Heiligen Schrift das Autograph seines früheren Eigentümers. Gutem nachreformatorischem Brauch folgend, hat der Graf mit eigener Hand das Vorsatzblatt mit kurzen Notizen zur Familiengeschichte versehen.
Eingangs beschreibt er Verlobung und Heirat mit Johanna Elisabeth von Nassau-Dillenburg mit den Worten: Durch sonderbhare Schickung des allerhögsten und consens beyderseits Eltern habe ich mich verlobet im Jhar 1692, den 9/19 Februarii, mit der durchleuchtigen furstin Johannetten Elisabheten, Furstin zu Nassau, Gräfin zu Catzenelnbogen, Vianden-Diez und Holzapfel, fr(auw) zu Beylstein, Laurenburg, Schaumburg und Lülsdorf. Haben auch dasselbige Jhaar beylager gehalten auf dem furstligen Hause Schaumburg den 16/26 tag Mayi in gegenwart vieler vornehmer pershonen. Die Heimfhahrt alhie zu Dettmoldt ist gewesen den 14/24 Januarii des 1693 Jhars, sie ist so lang aufgeschoben worden, weil selbigen Sommer im felde gewesen bin. Gerade mit letzterer Bemerkung streift er ein Stück europäischer Geschichte, denn seit 1688 focht der Graf zur Lippe mit gelegentlich längeren Unterbrechungen als Oberst an der Spitze eines in der Mehrzahl aus Lippern bestehenden Regiments im Pfälzischen Krieg auf Seiten der Vereinigten Niederlande, des englischen Königs Wilhelm III. von Oranien, Österreichs, Schwedens und Spaniens gegen die Truppen Ludwigs XIV. von Frankreich. Abrupt enden die persönlichen Aufzeichnungen mit der Geburt des vierten Kindes, der Prinzessin Charlotte Amalie, im Jahre 1697.
Der ausführliche, mit etlichen barocken Schnörkeln angereicherte Titel dieser Bibel gibt bereits deren Besonderheiten wieder: Biblia, Das ist die gantze Heilige Schrifft, durch D. Martin Luther verteutscht, mit D. Pauli Tossani hiebevor ausgegangenen Glossen und Außlegungen, welche aber in dieser neuen Edition aus vollkommlicher Übersetzung des Niderländischen … aufs neu gantz durchgangen … So sind auch weitläuftigere Vorreden, Summarien, Concordantien und dem Alten und Neuen Testament … meist aus dem Niederländischen verfertigte neue überaus nützliche Haupt- und verbesserte Namen-Register … beygefüget … Durch Theodorum Falckeysen Jetzo zum zweyten mahl verlegt und zu finden In Franckfurt am Mayn Bey Johann David Zunnern, Buchhändlern, Druckts Balthasar Christoph Wust, Im Jahr Christi MDCXCIII.
Die genannten „Glossen und Auslegungen“ Toussains, die das wesentliche Kennzeichen dieser Bibelausgabe ausmachen, gehen auf dessen 1617 in Heidelberg erschienene Bearbeitung und Kommentierung der Luther-Bibel zurück. Paul Toussain (1572-1634) war der Sohn des reformierten Theologen Daniel Toussain. Nach dem Studium der Theologie in Heidelberg, Altdorf, Genf und Leiden sowie anschließenden Rektoraten in Deventer und Amsterdam erwarb er 1599 den theologischen Doktorgrad in Basel und versah Pfarrämter in Frankenthal und in Heidelberg, wo er zudem seit 1613 an der Universität Dogmatik lehrte; als kurpfälzischer Delegierter nahm er 1618 an der Generalsynode der reformierten Gemeinden der Niederlande in Dordrecht teil.
Mit ihm begegnen wir einem typischen Vertreter der Kontroverstheologie seiner Zeit. Zwar legte er seiner Bibelausgabe die Übersetzung Luthers zugrunde, revidierte diese aber, wo ihm dies aus philologischen und interpretatorischen Gründen oder wegen nur in Kursachsen gebräuchlicher mundartlicher Formulierungen angebracht erschien.
Entscheidend war jedoch die Glossierung im Sinne des reformierten Bekenntnisses, so erklärte er u.a. das Abendmahl als bloße Gedächtnisfeier, Brot und Wein als heilige Zeichen („Siegel“) für Leib und Blut Christi; scharfe Kritik von lutherischer Seite ließ in der Tat nicht lange auf sich warten.
Obwohl um 1600 calvinistisch geprägte Bibelübersetzungen entstanden waren, von denen die sog. Piscatorbibel die bekannteste ist, favorisierten auch die reformierten Gemeinden den Luthertext; mithin erfreute sich gerade das Bibelwerk Toussains, das die Übertragung des Reformators mit Kommentierungen in reformiertem Geist verband, bei den Reformierten Deutschlands lange großer Beliebtheit. 1644 und 1665 erschienen Ausgaben in Basel, 1668 und 1693 folgten die beiden Frankfurter Auflagen, von denen die jüngere hier vorgestellt wird, und noch 1716 veranstaltete der preußische Hofprediger Hermann Pörtner in Minden eine letzte Ausgabe, die er dort bei Johann Detleffsen drucken und verlegen ließ.
Bereits die Baseler Editionen enthielten erhebliche Zusätze aus den Auslegungen des Giovanni Diodati († 1649), eines Genfer orthodox-calvinistischen Theologen, sowie aus der von den Generalstaaten autorisierten und 1637 erstmals erschienenen holländischen „Statenbijbel“, deren Glossar teilweise den Umfang des Bibeltextes erreicht; in den Niederlanden ist sie bis heute die Standardübersetzung der reformierten Kirche geblieben.
Veranlasst durch den nachhaltigen Erfolg der beiden Baseler Ausgaben beauftragte der gleichfalls aus Basel stammende Buchhändler Theodor Falkeisen (1631-1671), der sich im Besitz sowohl eines kurpfälzischen als auch kurbrandenburgischen Bibeldruckprivilegs befand, den Frankfurter Drucker Balthasar Christoph Wust (1630-1704) mit einer Neuausgabe der Toussain-Bibel. Diese erschien 1668 in Frankfurt und vermutlich erfolgte deren Vertrieb bereits über den Verleger Johann David Zunner d. J. († 1704), der dann 1693 eine nur geringfügig abweichende Neuauflage besorgte; diese benannte zwar noch Falkeisen als ersten Verleger, doch war der bereits 1671 in Basel hingerichtet worden.
Mit Wust und Zunner begegnen uns die beiden großen Persönlichkeiten, denen Frankfurt am Main in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts ganz wesentlich den Ruf als Buchstadt verdankt. Seit 1680 hatten sich beide zu einer Verlagsgemeinschaft verbunden und brachten es zusammen auf Druck und Verlag von 100.000 Bibeln; der Verlagskatalog Zunners weist 842 Werke auf, für Wust sind in den Messkatalogen fast 200 Drucke nachgewiesen.
Die Toussain-Bibel von 1693 aus dem Besitz des lippischen Grafen kann als ein recht repräsentatives Stück gelten. Als Handexemplar dürfte sie aufgrund ihrer Abmessungen von 43 x 27,5 x 12 cm kaum geeignet gewesen sein, auch erschweren die Glossen und der Anmerkungsapparat, die umfangreicher sind als der Text der Schrift, die Lektüre. Ganz in reformierter Tradition enthält diese Bibel nur äußerst zurückhaltende Illustrationen, allerdings ragen das beigegebene Kartenmaterial der heiligen Stätten und vor allem das Vortitelblatt mit einem prächtigen Titelkupfer heraus.
Gegliedert durch ein säulenflankiertes Portalwerk mit Gesims findet man in barocker Motivfülle in der Mitte links Moses mit den Gesetzestafeln, ihm gegenüber seinen Halbbruder Aaron im Ornat des Hohepriesters mit Diadem und Kultgerät, oben links die Opferung Isaaks durch Abraham, oben rechts den von der Himmelsleiter träumenden Jakob; beide Motive werden durch ein Medaillon mit dem Sündenfall unterbrochen. Unten im Sockelbereich wird das von Putten gestützte Medaillon mit der Kreuzigungsdarstellung links von den Evangelisten Matthäus und Markus, rechts von Lukas und Johannes flankiert. Das Bildprogramm des Titelkupfers erschließt dem Leser der Bibel schon eingangs die zentralen theologischen Aussagen.
Der Einband trägt keine individuellen Züge. Die hölzernen Einbanddeckel sind mit Schweinsleder überzogen, sie weisen als einzigen Schmuck wenige Blüten und Ranken, die mit Rollen- und Plattenstempeln aufgetragen worden sind, auf; ansprechend ist sicher die große zentrale Rautenranke. Mehrere dreifache Streicheisenlinien bilden die innere und äußere Umrahmung. Der Buchrücken mit den sieben erhabenen Bünden trägt keine zusätzlichen Schmuckelemente. Erwähnung bedürfen der vergoldete Blattschnitt mit zartem Ornament, der in der Regel ausgesprochenen Prachtausgaben vorbehalten blieb, sowie die auf Lederlaschen befestigten und als feines Rankwerk ausgebildeten Metallschließen.
Die Lippische Landesbibliothek verfügt über ein weiteres, in blauen Samt mit aufwändigem künstlerischen Beschlagwerk gebundenes Prachtexemplar dieser Bibelausgabe; auch dieses Exemplar dürfte aus ehemaligem landesherrlichen Besitz rühren.