Jahr der Bibel 2003

Mai

Genfer Bibel, 1560

Genfer Bibel, 1560 (TH 87.2°), TitelblattGenfer Bibel, 1560 (TH 87.2°), TitelblattGenfer Bibel, 1560 (TH 87.2°), Titelblatt
Genfer Bibel, 1560 (TH 87.2°), TitelblattGenfer Bibel, 1560 (TH 87.2°), TitelblattGenfer Bibel, 1560 (TH 87.2°), Titelblatt

Mai im Jahr der Bibel: Die Genfer Bibel der französisch-reformierten Hugenotten

Die Lippische Landesbibliothek nimmt das „Jahr der Bibel 2003“ mit seinen vielfältigen Aktivitäten in Lippe und deutschlandweit zum Anlass, allmonatlich ein herausragendes Exemplar des Buches der Bücher aus ihrer reichhaltigen Bibelsammlung zu präsentieren. Im Mai zeigt sie die Genfer Bibel der französisch-reformierten Hugenotten.

Von Julia Freifrau Hiller von Gaertringen

Die Lippische Landesbibliothek besitzt eine bemerkenswerte Sammlung von zwölf Bibeln der französischen Calvinisten aus 300 Jahren. Die französischen Protestanten wurden vom 16. bis zum 18. Jahrhundert als Hugenotten bezeichnet. Die älteste dieser Bibeln, mit einem Vorwort Jean Calvins 1560 in Genf gedruckt, ist die Bibel des Monats Mai. Die Landesbibliothek zeigt aber auch die anderen französischen Bibeldrucke bis zum jüngsten Exemplar, einer Straßburger Ausgabe aus dem Jahr 1868. Alle Stufen der Textentwicklung und der Druckgeschichte dieser Bibel können anhand des Bestandes der Landesbibliothek veranschaulicht werden.

Pierre Robert Olivétan (1506-1538), ein Vetter Jean Calvins, erhielt 1532 auf der Waldenser-Synode von Chanforan den Auftrag, eine von allen Zusätzen und Fehlern gereinigte, auf dem hebräisch-griechischen Urtext beruhende französische Bibel zu erstellen. Die Heilige Schrift war die Grundlage des protestantischen Reformationsanliegens, Kirche und Gesellschaft sollten sich nach ihren Maßstäben erneuern, jeder Christ sollte Zugang zu ihr haben. Ein authentischer und für alle Gläubigen verbindlicher Bibeltext in der französischen Volkssprache war dafür eine der wichtigsten Voraussetzungen. Olivétans Übersetzung des Neuen Testaments stützte sich vor allem auf die als exzellent geltende Vulgata-Übertragung des Humanisten Jacques Lefèvre d’Étaples von 1530, bei der Übersetzung des Alten Testaments bezog er alle ihm verfügbaren hebräischen, griechischen, lateinischen und volkssprachlichen Fassungen mit ein.

Die Bibelübersetzung von Olivétan wurde mit einem Vorwort Calvins zuerst 1535 in Neuchâtel in der französischen Schweiz gedruckt. Mit den altsprachlichen Vorlagen kam Olivétan offenbar gut zurecht, weniger mit dem Französischen, in das er den Text übertrug. Calvin fand die Übersetzung „unbeholfen und bisweilen vom allgemeinen und anerkannten Sprachgebrauch abweichend“ – ein Urteil, das die Bibelphilologie bis heute teilt. Calvin wünschte sich schon bei ihrem Erscheinen eine komplette Neubearbeitung auf wissenschaftlicher Grundlage. So wurde die Bibel seit ihrem Erscheinen laufend revidiert, jede Ausgabe hat einen wieder anderen Wortlaut.

Die Ausgabe von 1560 (Th 87.2°), die in der Lippischen Landesbibliothek vorhanden ist, erschien in Genf in der berühmten Offizin von Robert Estienne (1503-1559). Dieser hatte in den Jahren 1526 bis 1550 als Drucker des Königs François I. in Paris gewirkt, trat aber früh zum reformierten Bekenntnis über und verlor nach dem Tod des Königs 1547 den herrschaftlichen Schutz. Er flüchtete 1550 vor der religiösen Verfolgung nach Genf. Dort wurde er der Drucker Calvins. In der Fassung von 1560 setzte sich Olivétans Übersetzung als „Genfer Bibel“ schnell im gesamten französischsprachigen Protestantismus durch – ohne allerdings dieselbe konfessionelle Autorität zu erlangen wie die Lutherbibel im deutschsprachigen Raum.

Die großformatige Bibel zeigt auf dem Titelblatt das Signet Estiennes: einen Ölbaum und die Devise „noli altum sapere“ (sei nicht stolz). Dies bezieht sich auf das 11. Kapitel des Römerbriefs, in dem die Heidenchristen vor Überheblichkeit gewarnt werden – in Luthers Worten: „Wenn aber nun einige von den Zweigen ausgebrochen wurden und du, der du ein wilder Ölzweig warst, in den Ölbaum eingepfropft worden bis und teilbekommen hast an der Wurzel und dem Saft des Ölbaums, so rühme dich nicht gegenüber den Zweigen. Rühmst du dich aber, so sollst du wissen, dass nicht du die Wurzel trägst, sondern die Wurzel trägt dich. Nun sprichst du: die Zweige sind ausgebrochen worden, damit ich eingepfropft würde. Ganz recht! Sie wurden ausgebrochen um ihres Unglaubens willen: du aber stehst fest durch den Glauben. Sei nicht stolz, sondern fürchte dich! Hat Gott die natürlichen Zweige nicht verschont, wird er dich doch wohl auch nicht verschonen.“

Die knapp zwanzig Bildtafeln der Genfer Bibel von 1560 stammen von dem Zeichner und Holzschneider Pierre Cruche, der seit 1552 ebenfalls in Genf lebte und ein Anhänger Calvins war. Die bilderfeindlichen Calvinisten gingen allerdings sparsam um mit Illustrationen. Bildlich dargestellt werden nur Bauwerke oder Gegenstände, die sich der Leser sonst kaum vorstellen kann, z.B. die Arche Noah, die Stiftshütte, die Bundeslade, Kultgeräte, der Tempel Salomos oder der Palast des Königs. Die Arche Noah ist – wie im Bibeltext beschrieben und auch in den frühen Lutherbibeln dargestellt – ein einfacher rechteckiger Kasten, nicht ein Schiffsrumpf, wie in den vorreformatorischen Darstellungen. Zur Tempelvision des Propheten Hesekiel gibt es einen Plan im Format einer Doppelseite. Die Darstellung erfolgt also eher im Sinne einer Altertumskunde, Gottes Wort wird nicht ins Bild gebracht. Das Neue Testament enthält keine Bilder, so dass Christi Himmelfahrt als das Kirchenfest des Monats Mai hier nicht im Bild gezeigt werden kann.

Estiennes Bibel, in einer Auflage von etwa 1000 Exemplaren gedruckt, war vergleichsweise preisgünstig. Sie kostete 30 Sols, etwa den Wochenlohn eines Baumeisters oder Zimmermanns. Der Verkauf seiner reformierten Bibel im katholischen Frankreich war strikt verboten.

Die Bibel der Lippischen Landesbibliothek stammt aus dem Besitz des Grafen Simon VI. zur Lippe, in seinem Bücherverzeichnis aus dem Jahr 1597 ist sie bereits mit aufgeführt. Sie ist in einen kostbaren zeitgenössischen Renaissance-Einband gebunden, der mit braunem, rotem und schwarzem Leder überzogen ist. Dieses ist in der Technik des Golddrucks und der Goldpressung geschmückt; bei dieser Verzierungstechnik wird unter Verwendung erwärmter Stempel Blattgold auf das Einbandleder aufgepresst. In die Mitte beider Buchdeckel ist ein überaus filigranes, schönes Medaillon geprägt, das von spiralförmigen Ranken mit blumenkelchartigen Ansätzen im sogenannten Fanfares-Stil umgeben ist. Der Einband stammt von einem Meister seines Fachs, er ist den Einbänden des berühmtesten deutschen Renaissance-Buchbinders Jakob Krause in Dresden eng verwandt. Der vergoldete Schnitt des Buchblocks ist ebenfalls mit einem Rankenmuster verziert, das mit Punktstempeln in das Papier eingepunzt wurde. Die grünen Bänder, mit denen der Buchblock einmal zusammengehalten wurde, sind leider abgerissen.

Im Jahr 1565 druckte Henri Estienne (1531-1598), ein Sohn des Druckers Robert Estienne, in Genf eine neue großformatige Ausgabe der Genfer Bibel (Th 87a.2°), ergänzt um einige Holzschnitte wie eine Landkarte Mesopotamiens zur Lokalisierung des Gartens Eden und verschiedene weitere Karten etwa mit der Reiseroute des Auszugs der Israeliten aus Ägypten und den Wohnplätzen des Volkes Israel im Land Kanaan. Henri Estienne ist in der Lippischen Landesbibliothek auch durch seinen Druck eines griechisch-lateinischen Testaments von 1565 und von 1580 vertreten.

Bei Henri Estienne erschien 1567 auch eine kleinformatige Ausgabe (Th 896), die außerdem Karten zum Neuen Testament enthält. Der Bibel beigebunden ist ein historischer Kalender und der von Clément Marot und Théodore de Bèze in Reime gefasste Psalter, der den Hugenotten seit 1562 als Gesangbuch diente. Die Hugenotten lehnten das protestantische Kirchenlied ab und ließen im Gottesdienst nur den Psalter als das gesungene Gotteswort zu; erst Anfang des 18. Jahrhunderts wurde diese strenge Regelung aufgehoben. Die Noten zu den Melodien von Claude Goudimel sind im sogenannten „Genfer Psalter“ mit abgedruckt. Das Detmolder Exemplar dieser Bibelausgabe enthält den Besitzeintrag eines H. Starc von 1580 und verschiedene zeitgenössische Eintragungen: so zu einem Ereignis der Hugenottenverfolgung wie der protestantischen Verschwörung von Amboise 1560, infolge derer zahlreiche Hugenotten gehenkt wurden, aber auch zu dem Blitzschlag, der 1594 den Dom von Wesel beschädigte.

Die schon von Calvin beanstandeten und in der Folgezeit nicht wirklich beseitigten Mängel von Olivétans Übersetzung führten dazu, dass die Genfer Bibel seit 1588 in einer vollständig und sorgfältig überarbeiteten Fassung erschien, die in sechzehnjähriger Arbeit von den „Pasteurs et Professeurs de l’Eglise de Genève“ erstellt worden war. Fast jeder Vers ist gegenüber Olivétans erster Version verändert worden. Mit der Herausgabe durch ein Gremium der Kirchenleitung war die französisch-reformierte Bibel zugleich eine kirchliche Aufgabe geworden.

Die Lippische Landesbibliothek besitzt zwei Ausgaben dieser verbesserten Version, gedruckt in Genf in den Jahren 1605 und 1647. Die Bibel von 1605 (Th 897a) stammt aus der Druckerei Matthieu Berjon in Genf und war im Besitz des Grafen Simon VI. zur Lippe (1563-1613). Wie inzwischen üblich, finden sich im Anhang der Bibel nicht nur der Psalter mit Noten für den Kirchengesang, sondern auch der Text der Kirchengebete, die Tauf- und Abendmahlsordnung, die Hochzeitsliturgie, das Glaubensbekenntnis, die zehn Gebote und weitere konstituierende Texte des reformatorischen Glaubenslebens. Die Bibel von 1647 (Th 310.4°), gedruckt bei Pierre und Jacques Chouet in Genf, gehörte der Gräfin Amalie zur Lippe (1645-1700), der Frau des Grafen Simon Heinrich. Sie hat auf den leeren vorn und hinten eingehefteten Blättern die Familiendaten ihrer 16 Kinder eingetragen – in einer gut lesbaren Schrift und in französischer Sprache.

Die Zuwanderung von Hugenotten ließ in den protestantischen Niederlanden neben Genf ein zweites Zentrum des reformierten Geisteslebens entstehen. Im 17. und 18. Jahrhundert spielte Amsterdam eine wichtige Rolle als Hochburg des hugenottischen Bibeldrucks. Seit 1635 erschien die Genfer Bibel auch in Amsterdam. Dort ließ 1707 der zuletzt als Pfarrer in Utrecht tätige Gelehrte David Martin (1639-1721) seine sprachlich modernisierte Neubearbeitung der Genfer Bibel drucken. Zehn Jahre lang hatte er im Auftrag der niederländischen Hugenotten daran gearbeitet. Das von den führenden Buchhändlern Desbordes, Mortier und Brunel verlegte Werk ist in seiner Erstausgabe in der Lippischen Landesbibliothek vorhanden (Th 89.2°). Einige Jahre zuvor hatte Martin bei Mortier eine zweibändige, reich mit Kupferstichen illustrierte Bilderbibel erscheinen lassen, eine Nacherzählung der wichtigsten biblischen Geschichten; hiervon befindet sich ebenfalls ein Exemplar im Besitz der Lippischen Landesbibliothek (Th 101.2°).

Die seit den Erstdrucken im 16. Jahrhundert üblichen Illustrationen sind im Kupferstich auch in der Bibel Martins von 1707 enthalten. Das Großformat erklärt sich möglicherweise daraus, dass es nach der Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 und der damit verbundenen Massenflucht der Hugenotten aus Frankreich in den Exilgemeinden einen großen Bedarf an Kanzelbibeln gab. Den verfolgten Gläubigen war die Auswanderung nämlich bei Androhung der Galeerenstrafe verboten, wer in die Niederlande entkam, hatte allenfalls ein wenig Handgepäck bei sich.

Die Fassung der französischen Bibel von Martin wurde bis ins 19. Jahrhundert immer wieder nachgedruckt. Ein Belegstück für den Druck und Vertrieb dieser Bibel auch im deutschsprachigen Raum ist die 1727 bei Jonas Korte verlegte Ausgabe (Th 901c). Gedruckt wurde diese Bibel in der Druckerei Breitkopf in Leipzig, verkauft wurde sie über den Buchhändler Korte in Flensburg und Altona hauptsächlich nach Dänemark. Bis auf einen Kupferstich als Frontispiz, der Maria im Rokoko-Gewand am Grabe Jesu und den Auferstandenen am Grabe sitzend zeigt, ist die Bibel nicht illustriert.

Noch einmal revidiert wurde die Genfer Bibel von Pierre de Roques (1685-1748), Pfarrer der französisch-reformierten Gemeinde in Basel. Seine stilistisch verbesserte Fassung wurde Mitte des 18. Jahrhunderts von dem Baseler Verleger Johann Rudolf Imhoff vertrieben. Er druckte Bibeln im handlichen Kleinformat für den Haus- und Privatgebrauch. Die Lippische Landesbibliothek besitzt eine dieser Ausgaben aus dem Jahr 1744 in zwei Exemplaren. Das eine, stark benutzte Exemplar (Th 901) enthält außerdem den Psalter mit Noten und die liturgischen Texte, wie sie sich schon seit 150 Jahren im Anhang der Hugenottenbibel fanden – allerdings bereits ergänzt um 54 neue geistliche Lieder, die von der reformierten Geistlichkeit Genfs als Ergänzung des Psalters zugelassen worden waren. Das zweite Exemplar (FP 4), ohne diesen Anhang, stammt aus der Bibliothek der Fürstin Pauline zur Lippe (1769-1820); es gehörte ihrer Mutter Louise Albertine, geborene Prinzessin von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Plön. Eine Neuauflage dieser Bibel aus dem Jahr 1760 (8.1980.366) befand sich ehedem in der Gymnasialbibliothek Lemgo, der Bleistifteintrag des Namens Christian Graeben auf dem Nachsatz weist vielleicht auf einen früheren Besitzer hin.

Seit 1724 gab es neben den Genfer Bibeln mit dem Text von Martin oder Roques noch eine weitere Fassung. Jean Frédéric Ostervald, Pfarrer in Neuchâtel in der Schweiz, der dem theologisch liberalen Flügel der Calvinisten angehörte, ließ sie mit Billigung der reformierten Theologen Genfs zunächst in den Niederlanden erscheinen. Auch seine Bibel wurde bis ins 20. Jahrhundert immer wieder aufgelegt: die Lippische Landesbibliothek besitzt eine kleine einfache Taschenbibel (18.00.332), gedruckt in London 1855, mit dem Besitzeintrag einer Maria Obustier aus Morges im schweizerischen Kanton Vaud von 12. November 1856. Die jüngste Genfer Bibel im Bestand der Landesbibliothek (Th 901b) ist eine Straßburger Ausgabe der Ostervald-Bibel von 1868, die eine Besitzerin namens Daisy Forbes im September 1873 in Paris erworben hat.