Jahr der Bibel 2003

Dezember

Die Heilige Schrift illustriert von Gustave Doré

Dezember im Jahr der Bibel: Die Heilige Schrift illustriert von Gustave Doré. Stuttgart 1875

Die Lippische Landesbibliothek nimmt das „Jahr der Bibel 2003“ mit seinen vielfältigen Aktivitäten in Lippe und deutschlandweit zum Anlass, allmonatlich ein herausragendes Exemplar des Buches der Bücher aus ihrer reichhaltigen Bibelsammlung zu präsentieren.

Im Dezember zeigt sie mit der Doré-Bibel (Th 3814.2°) eine illustrierte Bibel des 19. Jahrhunderts und zugleich einen spektakulären Welterfolg: die Doré-Bibel ist die bis heute meistverkaufte und global beliebteste Bilderbibel überhaupt.

Von Julia Freifrau Hiller von Gaertringen

Gustave Doré, 1832 in Straßburg geboren und 1883 in Paris gestorben, war eine künstlerische Frühbegabung. Schon als Kind beeindruckte er mit seinen illustrierten Geschichten. Als Fünfzehnjähriger begann er eine Ausbildung zum Zeichner in Paris und veröffentlichte sein erstes illustriertes Buch. Im nächsten Jahr schon wurde er als fester Mitarbeiter bei dem Unterhaltungsblatt Journal pour rire engagiert. Als Zeichner, Karikaturist und Buchillustrator wurde er schnell berühmt.

„J’illustrirai tout!“ Im Jahr 1861 verkündete Doré seinen Entschluss zu einer „illustrierten Weltbibliothek“ mit dem Ziel, alle Hauptwerke der Weltliteratur als illustrierte Reihe in einheitlichem Großformat vorzulegen. Als erstes Werk dieser Reihe erschien 1861 Dantes „Göttliche Komödie“.

Insgesamt illustrierte Doré 90 Werke aller Völker und Epochen, von der griechischen Antike über den Orient und das europäische Mittelalter, Shakespeare und Byron, Dante und Boccaccio, Molière und La Fontaine, Goethe und Schiller bis zu Zeitgenossen wie Charles Dickens, Edgar Allan Poe, Alexandre Dumas und Victor Hugo. Die Werke wurden in anderen Ländern und Sprachen mit Dorés Bildern so vielfältig nachgedruckt, dass man von einer geradezu industriellen Kunstproduktion sprechen kann. Doré war der populärste Buchillustrator seiner Zeit, dazu ungemein fleißig und produktiv: er soll annähernd 100.000 Illustrationen geschaffen haben. Dabei erstrebte er selbst eher seine Anerkennung als Maler und Bildhauer, die ihm allerdings zu Lebzeiten gänzlich versagt blieb.

Sein größter Erfolg war die Bibel mit 230 Holzstichen, deren erste französische Ausgabe 1866 mit allen Apokryphen zum Preis von 200 Francs auf den Markt kam. Sie erschien in Tours im Verlag von Alfred Mame (1811-1893), einem der bedeutendsten buchgewerblichen Unternehmen Frankreichs in der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem einzigen Provinzverlag, der mit den Pariser Hauptstadtverlagen konkurrieren konnte. Diese französische Bibel war eine zeitgenössische Übersetzung der lateinischen Vulgata, also eine Bibel für französische Christen katholischer Konfession.

Innerhalb kürzester Zeit gab es die Doré-Bibel in Pracht- und Volksausgaben in allen europäischen Sprachen, sie wurde 1867 in London, dann in Stuttgart, Mailand, Stockholm, St. Petersburg, Warschau, Prag, Arnhem, Amsterdam, Den Haag, Dordrecht, Maastricht, Helsinki, Barcelona, Lissabon, Philadelphia und Chicago gedruckt; auf den Philippinen erschien 1908 auch eine Doré-Bibel in Cebuano. Die erste ungarische Doré-Bibel erschien erst 1931, die erste bulgarische 1949, die erste griechische 1960.

Die Popularität der Holzstiche überwand sämtliche konfessionellen Hürden: die Bilder schmücken katholische, lutherische und reformierte, aber auch russisch-orthodoxe, griechisch-orthodoxe, anglikanische, methodistische, baptistische und freikirchliche Bibelausgaben jeder Prägung. Auch Einzelausgaben des Alten Testaments für jüdische Gläubige – des Tanach – wurden seit dem ersten Erscheinen immer wieder neu in Hebräisch oder in den Volkssprachen aufgelegt.

Die deutsche Ausgabe der Doré-Bibel erschien zuerst 1867/70 bei Eduard Hallberger (1822-1880) in Stuttgart.

Hallbergers Verlag wiederum war zu dieser Zeit eines der führenden Verlagsunternehmen in Deutschland und publizierte die beliebten illustrierten Familienblätter Illustrirte Welt und Über Land und Meer. Für das gutbürgerliche Publikum dieser Zeitschriften waren auch die pompösen Prachtwerke aus Hallbergers Verlag bestimmt, zu denen die Doré-Bibel gehörte. Hallberger ließ sie zuerst als Lutherbibel für evangelische Christen herstellen. Gleich darauf war sie aber auch als katholische Bibel in der Übersetzung von Joseph Franz von Allioli erhältlich, der seit 1830 meistverbreiteten Bibelausgabe im katholischen Deutschland. Und 1874 druckte Hallberger auch eine jüdische Bibel in der Übersetzung des liberalen Rabbiners Ludwig Philippson.

Die Doré-Bibel der Lippischen Landesbibliothek ist eine Lutherbibel. Es handelt sich um die vierte Auflage aus Hallbergers Verlag aus dem Jahr 1875. Aus wessen Besitz die Bibel stammt, ist unbekannt; die vom Verlag vorbereiteten Seiten für Besitzeintragungen und Familienchronik wurden nicht genutzt. Die Bibel wurde 1975 aus unbearbeiteten Altbeständen in die Bibelsammlung der Bibliothek übernommen. Die zwei großformatigen Bände sind in rotes Leder mit aufwändiger Pressvergoldung gekleidet: die Vorderdeckel zeigen in den Ecken die vier Evangelistensymbole, eingebettet in üppiges Rankwerk, in der Mitte des ersten Bandes Moses mit den Gesetzestafeln und in der Mitte des zweiten Bandes Christus als Weltherrscher.

Die Technik, die Doré für seine Bibel anwandte, ist die des Holzstiches, auch Xylographie genannt. Bei dieser Hochdrucktechnik wird die Vorzeichnung auf eine Buchsbaum-Hirnholzplatte aufgetragen und anschließend mit dem Grabstichel umgesetzt. Das Verfahren hatte dem bis dahin als Illustrationstechnik bevorzugten Kupferstich gegenüber den Vorteil, dass sich die Holzstiche auf Buchdruckpressen und -maschinen in hohen Auflagen zugleich mit dem Text drucken ließen und nicht nachträglich im Tiefdruckverfahren ergänzt werden mussten. Daher löste der Holzstich, zusammen mit der Lithographie, im 19. Jahrhundert den Kupferstich als führende Illustrationstechnik ab.

Doré zeichnete sein Motiv direkt auf den Holzstock oder bediente sich fotografischer Verfahren, um eine Zeichnung auf den Holzstock zu übertragen. Dann ließ er den Stich von einem seiner Xylographen ausführen. Wie die Künstlersignaturen erweisen, haben an der Bibel 35 Holzstecher mitgearbeitet, die auch an den Reproduktionsrechten beteiligt waren. Die Verlagsanstalten, die andernorts die Doré-Bibel nachdruckten, unterhielten Reproduktionsstecher, welche die Vorlagen nachstachen. Hallbergers Verlag war auch deshalb für den Druck der Bibel prädestiniert, weil zum Unternehmen nicht nur eine Papierfabrik und eine Druckerei, sondern auch eine Xylographische Anstalt gehörte.

Dorés Stiche faszinieren nicht nur durch ihre Erzählfreude, durch realistische Darstellung und dramatische Zuspitzung, sondern vor allem durch effektvolle Hell-Dunkel-Wirkungen. Dabei sind die Illustrationen zum Alten Testament eindrucksvoller; sie zeigen beängstigende Schlacht- und Massenszenen und weite Naturräume und Dorés Freude an der Gestaltung eines pittoresken orientalischen Lokalkolorits wie an der Nachbildung archäologischer Monumente. Die Bilder zum Neuen Testament wirken dagegen konventionell mit einer Tendenz zum Süßlich-Kitschigen; Christus tritt auf wie ein „melodramatischer Theaterheld“. Das Weihnachtsbild ist in seiner Beschaulichkeit geradezu brav. Gleichwohl haben auch diese Bilder große Nachwirkung gehabt.

Der Einfluss von Dorés Illustrationen zur Bibel ist nicht zu überschätzen: ihre massenhafte Verbreitung und ständige Wiederaufbereitung in der Populärgraphik und Andachtsbilderindustrie seit nun fast 140 Jahren hat die religiösen Vorstellungen von Generationen geprägt und prägt sie bis heute.